Werkgruppen
Das künstlerische Werk von Carl Orff enthält Bühnenwerke, Vokalwerke und Instrumentalwerke. Bisher unveröffentlichte Werke und Bearbeitungen wurden nicht aufgelistet. Soweit nicht anders vermerkt, wurden die Werke Carl Orffs im Verlag Schott Music herausgegeben. Die wichtigsten Informationen dazu sind auch in dem bei Schott erschienenen und als PDF verfügbaren Verzeichnis der veröffentlichten Werke sowie dem Bühnenwerkführer enthalten.
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Besetzung: Schauspieler, Solisten, Chor, Orchester, Tonband
Sprache: deutsch, altgriechisch, lateinisch
Entstehungszeit: 1946–1960
Werkteile / Gliederung
Zur Werkgruppe des Bairischen Welttheaters zählen folgende Kompositionen:
Die Bernauerin – Ein bairisches Stück (1946)
Astutuli – Eine bairische Komödie (1946/1953)
Diptychon:
Ludus de nato Infante mirificus – Ein Weihnachtsspiel (1960)
Comoedia de Christi Resurrectione – Ein Osterspiel (1955)Die Werke des Bairischen Welttheaters sind als thematische Gruppierung ohne hierarchische Ebene zu verstehen. Alle Werke sind einzeln aufführbar. Obgleich sich eine Aufführung im Verbund anbietet, bestehen, mit Ausnahme des Diptychons, bei dem die Sequenz Ludus – Comoedia bindend ist, keine zwingenden Vorgaben, etwa zur gemeinsamen Aufführung, zur Aufführung in zyklischer Form oder in einer bestimmten Reihenfolge.
Informationen zu Handlung und Besetzung finden sich bei den jeweiligen Einzelwerken
Kommentar
Die […] Stücke sind nach Stoff, Gestaltung und Gattung verschieden: Die Bernauerin, obwohl von der Volksballade ausgehend und als »szenische Ballade« deutbar, stellt eine Vorfiguration der Tragödie antikischen Zuschnitts dar; Astutuli können in der Nachfolge des Satyrspiels, Weihnachts- und Osterspiel in der Nachbarschaft des Mysterienspiels gesehen werden.
Trotz dieser Unterschiede stehen sie unter dem gemeinsamen Titel: Bairisches Welttheater. Ist dieser Titel nicht widersprüchlich? Bedeutet nicht die Verlegung weltweiten und weltgültigen Geschehens in einen sprachlich, landschaftlich und mental geprägten Raum eine Verengung und Verkleinerung des Gegenstandes, die dem Rang und Anspruch eines »Welttheaters« nicht mehr entspricht?
Die Antwort ist in der Eigenart des Orffschen Bairisch zu suchen, eines aus dem Sprachbestand des Dialekts eigens geschaffenen szenischen Idioms. Der gebürtige Bayer hat sich den unerschöpflichen Wortschatz der heimischen Mundart, ihre Bedeutungsbrechungen, Farben und Nuancen und die Bildhaftigkeit ihrer Idiomatik durch das Studium von Schmellers Wörterbuch bewußt und verfügbar gemacht. Orff »inszeniert« gleichsam den Dialekt; er spielt und musiziert mit der Sprache und erzeugt in der Einheit mit der Musik eine unverwechselbare, einmalige Atmosphäre, deren »Echtheit« weder durch naturalistische Nachahmung des Dialekts noch mit den Mitteln der Hochsprache zu erreichen ist.
In solcher Gestalt verengt das Bairische nicht; es wirkt eher raum- und zeitenthoben. Es ist fähig, mit dem Lateinischen und dem Griechischen eine selbstverständliche Symbiose einzugehen. In dem ungewöhnlichen Miteinander dieser verschiedengearteten Sprachebenen unter Ausklammerung der deutschen Hochsprache wird ein Theater besonderer Art möglich.
Orffs Zugriff zur Sprache ist »radikal« im Ursinn des Wortes: er geht bis auf die Wurzel, den Bildhintergrund des Wortes zurück. Das Spiel mit diesen Wurzeln wird zum Stil der Gestaltung. Sein Umgang mit dem Sprachbestand ist ein Sublimierungsvorgang, der die gerade im bairischen Dialekt und in der Mentalität des bairischen Stammes naiv und unreflektiert vorgegebenen Eigenschaften gestalterisch aufgreift: die Klangsinnlichkeit und die Bildfülle des Wortes, aber auch seine damit verbundene gestische und mimische Qualität, die der gesprochenen Sprache eigentümlich ist.
Denn Dialekt läßt sich im Grunde nicht schriftlich fixieren; alles ist unmittelbar »erhörtes«, aktives, handelndes Sprechen. »Dem Bajuvaren wurde alles Handlung.« Ihm wohnt ein »unbesiegbarer Drang zur Darstellung« ein, in dem Bild und Klang, pathetische Gebärde und Tanzrhythmen zusammenfließen.« [sic] So hat Hugo von Hofmannsthal (1919) den im bayerisch-österreichischen Raum heimischen »Urtrieb« zum Spiel, die dort lebendige Lust und Liebe zum Theater beschrieben.
Nichts wäre allerdings verkehrter, als Orffs Welttheater in die Linie des bayerisch-österreichischen Volkstheaters zu stellen. Sein Schaffen ruht zwar auf diesem Fundament. Aber es ist auf völlig neue Sinnebenen gehoben. Es hat nichts gemein mit Landschaftsdichtung und Heimatkunst. Denn während das Dialektstück Realitätsnähe erzeugt, als agierten da leibhaftige Menschen des bayerischen Raumes, schafft Orffs bairische Sprache und Diktion eine Realitätsferne, die als dichterische Gegenwirklichkeit neu ersteht. Verschiedenste Haltungen, Bildbereiche und Phantasieräume werden in wechselnder sprachlicher Konfiguration szenisch aufgeschlossen, etwa im Diptychon das Mythisch-Märchenhafte (Erdmutter und Kinder im Schnee), das Legendäre (Erzählung der Hirten, Zug der Magier), das Naturhafte (Frühlingsmonolog des Grabwächters); in der Bernauerin das Lyrisch-Visionäre(»Liebesgarten«), das Untergründig-Drohende (Bürgerszene u. a.), das Apokalyptische (Hetzpredigt des Mönchs); in Astutuli dagegen das Burleske, das Phantastische (Schlaraffenland), das Naiv-Erotische (die jungen Paare); vor allem aber der Einbruch und Ausbruch der außermenschlichen, dämonischen Mächte, der Hexen und des Teufels bis zu dessen komödiantischer Pervertierung – die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
In solch vielfältiger Brechung hat Orff das Bairische zu einer gestisch-mimisch-imaginativen Theatersprache sui generis entfaltet. Er wurde an der bairischen Sprache zum Dichter.
Er wurde daran aber auch zum idealen Interpreten seiner selbst. Seine Lesungen als »Einmanntheater« sind längst zum Begriff geworden, auf Tonträgern verschiedener Art festgehalten und durch die Medien ausgestrahlt worden.
Nicht nur das Theatermachen, auch das Theaterspielen ist in Orffs Natur angelegt. Er übte es im Puppentheater seiner frühen Jugend, aber auch im imaginativen Rezitieren und Improvisieren am Instrument. Es prägt sich später aus in der Eigenart seiner künstlerischen Mitteilung. Ehe ein Wort oder eine Note auf dem Papier steht, ist die Konzeption längst fertige Szene, die er am Klavier oder am Lesetisch vorführt. So sorgfältig und vielseitig durchgeprüft seine Endfassungen sind, seine Art des Schaffens ist der »status nascendi«, ist der Impetus des Spiels als spontane und momentane Aktion. Und nichts ist ihm so suspekt wie eine »Endfassung«. Es reizt ihn immer von neuem, das Ausgeformte unter den praktischen Bedingungen der Szene zu überprüfen und nach ihrem Gesetz zu ändern.
Seine Lesungen sind für ihn die Probe aufs Exempel. Als Requisiten genügen ihm ein Tisch, ein Stuhl, und allenfalls noch ein Bleistift zum Markieren eines Rhythmus oder zum Artikulieren imaginärer Zeitquanten, um ein mimisches, gestisches, pantomimisches und von Sprachklang und Bildfülle berstendes Theater zu entfesseln, dessen Intensität viele seiner Zuhörer und Kritiker über eine Bühnenaufführung stellen. Denn im selbstgesprochenen, rhythmisierten, gleichsam getanzten Wort, aber auch in »sprechenden« Pausen und hintersinnigen Zwischentönen, deren vollkommene Artikulation und Schwingung nur dem Autor verfügbar sind, gelingt es Orff, das Ganze der Szene zu imaginieren. Spieler und Chöre, ja sogar die sprachgestische Mitwirkung der Instrumente erstehen in voller szenischer Magie in der Vorstellung des Zuhörers. Es ist zugleich ein elementarisiertes wie ein »totales« Theater, in dem es nicht um Auffassungen, Deutungen, Regiekünste geht, sondern um die Entfaltung der zeichenhaften Substanz und Essentialität der Szene. Wenn Orff sie vergegenwärtigt, dann wird der Ruf des Gaglers in den Astutuli zur Devise: Alles ist Phantasie!
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Ein Zyklus für gemischten Chor a cappella
Textdichter/-vorlage: diverse
Besetzung: gemischter Chor (SMezATBarB und SSSATTTB), Männerchor (TTTBBB) und Soli (TBarB)
Sprache: lateinisch, altitalienisch
Entstehungszeit: 1930–1956
Aufführungsdauer: 26′
Werkteile / Gliederung
Der Zyklus Concento di voci verbindet die drei folgenden Werke in der angegebenen Reihenfolge:
I. Sirmio – Tria Catulli Carmina (1930)
II. Laudes creaturarum – quas fecit Beatus Franciscus ad Laudem et Honorem Dei (1954)
III. Sunt lacrimae rerum – Cantiones seriae (1956)
Alle Teile sind auch einzeln aufführbar
Informationen zu Handlung, Besetzung und Aufführungsmaterial finden sich bei den jeweiligen Einzelwerken
Kommentar
1954 eröffnete Orff die dreiteilige Sammlung von a-cappella-Chorsätzen Concento di Voci mit den 1931 geschriebenen und neu überarbeiteten Tria Catulli Carmina, Sirmio (siehe Catulli Carmina II). Auch zu dieser zweiten Sammlung von lateinischen Catull-Gedichten für gemischten A-Cappella-Chor wurde Orff seinerzeit durch das Erlebnis der Heimat des Dichters, des Gardasee und der Halbinsel Sirmio inspiriert.
[…] Wie in »Sirmio« folgen die drei Gedichte, zu einer dramatischen Einheit geformt, attacca aufeinander. Der erste Chor ist eine Klage um die Vergänglichkeit der Welt: »Omnia deliciarum et pomparum saeculi brevi finis« (»Lust und Herrlichkeit der Welt endet bald«, in R. Bachs Übersetzung). Der zweite steht auf den Text: »Omnia tempus habent et suis spatiis transeunt universo sub coelo« (»Alles hat seine Zeit und läuft seine zugemessne Bahn unter dem Himmel: die Zeit des Geborenwerdens und des Sterbens, die Zeit des Pflanzens und die Zeit des Ausreißens dessen, was gepflanzt war« usw.) Dieser Chorsatz endet, ganz im Gegenteil zu einer Interpretation Orlando di Lassos, der mit »Frieden« (pacis) schließt, mit einem Orffschen »Esaltato«, mit einem Schrei nach Frieden. Der dritte Teil greift in einem Bariton-Solo, erompente e molto pesante, die Schlußzeile des zweiten Chores fragend auf: »Et tempus pacis?« (vergl. Auch das Schlußgespräch der Hirten vom pax im Weihnachtsspiel). Abschließend bringt der dritte Teil Orffs eigene Dichtung: »Eripe nos, Domine, ex ungulis mordacibus horribilis istius daemonicae …« (»Reiße uns, Herr, aus den tödlichen Klauen jener furchtbaren Teufelin, die da heißt: Schwermut, Traurigkeit, Melancholie – Seid heiter, Freunde, und voll Vertrauen!«) – Ein Tenorsolo »Dammi il paradiso« (man denkt an »Dormi ancora« in Catulli Carmina) beendet das Werk.
Alle drei Teile sind von einfachstem Klanggebilde, das wiederum die »Klangrezitation« im Mixtursatze scharf hervortreten läßt und den Solo-Tuttikontrast lebendig nutzt. So werfen sich die Gruppen hoquetusartig die Worte: mors, color, luctus, pavor zu. Trägt der erste Chor die Vortragsbezeichnung »con gran tristezza«, so der zweite »sibillino« und der dritte »erompente e molto pesante«. Der Solorezitation der Textstelle »von der bösen Teufelin« und der knappen Aufforderung »seid heiter« folgt dann das chorisch mit dem Tenorsolo breiter ausgeführte »Dammi il paradiso«.
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für gemischten Chor und Instrumente
nach Texten von Friedrich Schiller
Textdichter/-vorlage: Friedrich von Schiller
Besetzung: gemischter Chor und Instrumente
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1955/1956, rev. Neufassung 1981
Uraufführung: 4. November 1987 München (D) · Dirigent: Arturo Tamayo · Münchner Schlagzeugensemble (Leitung: Peter Sadlo) · Chor des Bayerischen Rundfunks (Gesamturaufführung)
Aufführungsdauer: 22′ (gesamt)
Werkteile / Gliederung
Die Kantaten nach Texten von Bert Brecht beihalten folgende Werke:
1. Die Sänger der Vorwelt (1955, revidiert 1981)
2. Nänie und Dithyrambe (1956, revidiert 1981)
Die beiden Teile sind auch einzeln aufführbar.
Informationen zu Handlung, Besetzung und Aufführungsmaterial finden sich bei den jeweiligen Einzelwerken.
Besetzung detailliert
Orchester: 6 Fl. – 3 Pos. – P. S. (mehrere Glsp. · Xyl. · Vibr. · Marimba · 5 Zimb. · Trgl. · Beckenpaar · hg. Beck. · Tamt. · Tamb. · gr. Tr. · Kast. · Dobaci) (9 Spieler) – 2 Hfn. · 4 Klav. (8 Spieler) – mehrere Kb.
Kommentar
Im Laufe seines Schaffens wandte sich Carl Orff mehr und mehr klassischen Stoffen und Formen zu. In der Mitte der 1950er Jahre, zwischen seinen Bühnenwerken Trionfo di Afrodite und Oedipus der Tyrann, komponierte er auch Chorwerke, die sich mit der Antike auseinandersetzen. Darunter finden sich die Hymne Der Sänger der Vorwelt, die strenge, sehnsuchtsfreie Totenklage Nänie und das orgiastische Gedicht Dithyrambe. Anfang der 1980er Jahre vereinte Orff sie zu einem Werk.
In seinen Dithyrambi geht Orff über den Klassizismus Friedrich Schillers hinaus. Während der Dichter seinen Blick auf das Erhabene und dessen Wirkung auf seine Innenwelt richtet, reanimiert der Komponist durch seine Satzweise das archaische Moment, den Ritus, den wollüstigen, erdverbundenen Rausch. Gleichzeitig stellt er die klassische Einheit von Musik, Gesang, Tanz, Sprache und Drama wieder her. Wie in den dionysischen Feiern der Antike fällt dem Vokalensemble dabei eine zentrale Rolle zu; übernimmt das Instrumentarium in erster Linie rhythmische Funktionen, so überformt der Chor den Text in einer eigenen musikalischen Schicht ins Hymnische.
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für eine Singstimme und Klavier
Textdichter/-vorlage: diverse
Besetzung: Singstimme und Klavier
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1911, 1919–1921
Aufführungsmaterial Schott Music
Inhalt
I Schlaflied für Mirjam op. 6/2, 1911 (Richard Beer-Hofmann)
II Immer leiser wird mein Schlummer op. 8/2, 1911 (Hermann Lingg)
III Bitte, 1919 (Nikolaus Lenau)
IV Mein Herz ist wie ein See so weit, 1919 (Friedrich Nietzsche)
V Zwiegespräch, 1919 (Klabund)
VI Blond ist mein Haar, 1919 (Klabund)
VII Herr, ich liebte, 1919 (Klabund)
VIII Als ich dein Wandeln an den Tod verzückte, 1920 (Franz Werfel)
IX Rache, 1920 (Franz Werfel)
X Ein Liebeslied, 1920 (Franz Werfel)
XI Mondlied eines Mädchens, 1920 (Franz Werfel)
XII Litanei eines Kranken, 1921 (Franz Werfel)
XIII Nacht, 1920 (Franz Werfel)
XIV Der gute Mensch, 1920 (Franz Werfel)Kommentar
Der erste Band der Orff-Dokumentation hat den Blick auf die bis dahin fast unbekannten Frühwerke Orffs gelenkt.* Ihre teilweise Publikation veranschaulichte die Darstellung der Anfänge und Stilgrundlagen seines Schaffens. Erst aus der mit dem Abschluß der Dokumentation gewonnenen Gesamtsicht, vor allem aus der Retrospektive des Spätwerkes, wurde deutlich, wie früh und entschieden die Kennmale des Orff-Stils hervortreten. Sie sichern bereits den ersten Kompositionen selbständigen Rang.
Orff hat mit klavierbegleiteten Liedern begonnen. Sie in die Nachfolge des spätromantischen Klavierliedes zu stellen, erweist sich als unzutreffend.
Das im Juni 1911 entstandene Schlaflied für Mirjam (Text von Richard Beer-Hofmann, 1898) – erste Begegnung des fast Sechzehnjährigen mit einem für die Gefühlslage des fin de siècle repräsentativen Gedicht eines zeitgenössischen Autors – ist typisch für Orffs Grundzug, die Faszination der Sprache als Musik darzustellen. In dem expressiven Melos des Sprechgesanges tritt der Charakter des schlafrufenden Ansingens unter weitgehender Aussparung einer Klavierbegleitung sinnfällig hervor. Nur phasenweise skizziert das Instrument fast beiläufig, wie angerissen, eine sicilianoartig wiegende Grundfigur.
In dem nur wenig älteren Lied Immer leiser wird mein Schlummer (Text von Hermann Lingg) tritt ein zweiter Grundzug Orffs bestimmend hervor: der primäre Klang wird als Ausdrucksmittel erprobt. Die Unbekümmertheit gegenüber der überlieferten harmonischen Logik deutet auf improvisatorische Erfindung am Klavier, eine dritte Eigenart Orffschen Musizierens. Sie weist aber auch voraus auf die für den späteren Orff charakteristischen, zum Ostinato tendierenden Pendel- und Schwebeklänge ohne Auflösung, die farblich wechselnde Klangflächen ausbilden, aus denen sich die Singstimme herauslöst. Die zweite Gruppe von Liedern aus dem Jahre 1919 schließt, ungeachtet des zeitlichen Zwischenraumes mit vielen anderen Wegen und Umwegen, die Orff abgeschritten hat, bruchlos an die Frühphase an. Lenaus Bitte, ein ekstatischer Anruf an die zu personaler Mächtigkeit erhöhte Nacht, hat Orff als Liebeslied verstanden. So erscheint Nietzsches Mein Herz ist wie ein See so weit in hymnischer Diktion als »Schwesterstück«.
In diesen beiden Liedern tritt eine weitere Eigenart Orffs hervor. Melos und Klang werden neu aufeinander bezogen. Das Melos wird gleichsam harmonisch aufgeladen, indem unter jeden Ton ein Farbklang punktuell aufgehängt wird. So entsteht ein irreguläres Farbgitter, das akkordische Einzelreflexe aneinanderreiht und nur an den Wendemarken auf Tonalität hinzielt. Die scheinbare Begleitung ist demnach klanglich projiziertes Melos.
Gegenüber der verhaltenen Glut des Lenau-Liedes zeigt der Durchbruch des Kantablen in dem Nietzsche-Lied den Glanz der »italianità«, der auch in Orffs späterem Schaffen immer wieder aufleuchtet. Nach der schweifenden Überraschungsharmonik in der Begleitung wirkt die abschließende harmonische Kadenz, die den hymnischen Schwung in gesammelte Stille münden läßt, fremdartig und wie zum ersten Mal gehört.
Die Wendung zu einem neuen Dichter bringt für Orff immer auch eine stilistische Öffnung oder Wandlung mit sich. Das Zwiegespräch nach Klabund ist das Signal dafür. Es hat für Orff persönlich die Bedeutung einer Metapher: Dank und Abschied von dem Meister dieser Epoche, Richard Strauss. In den beiden folgenden Liedern nach Klabund Blond ist mein Haar und Herr ich liebte vollzieht sich der mächtige Um- und Durchbruch zu der für den Orff-Stil typischen Klangarchitektonik. Girlanden gleich werden die Worte herausgeschleudert und suchen sich gleichsam selbst ihren Tonort. Diatonik wird vorherrschend. Eine Begleitung im üblichen Sinn gibt es nicht mehr. Pfeilerartige Stützklänge schaffen einen Klangraum, der in schreitenden Gängen, schwingenden Klanggesten oder organalartigen Mixturketten ausgemessen wird. Singen wird zu ekstatischem Strömen, das in keinen Takt mehr einzubinden ist.
Der al fresco-Stil dieser Lieder spiegelt unmittelbar die rhapsodische Vision, die nicht mehr an der realen Ausführbarkeit orientiert ist. Die Stimmlagen sind nirgends festgelegt. Im Klangsatz der Klaviere können sich gegebenenfalls zwei Spieler vierhändig arrangieren, um dem primären Improvisationscharakter voll gerecht zu werden. Wenn Orff selbst bei früheren Aufführungen dieser Lieder mit vierhändigem Arrangement der Begleitung als Primo-Spieler den notierten Satz improvisierend ergänzt hat, dann bezeichnet das jenen Punkt, wo der Charakter des in der Aufzeichnung festgelegten Werkes überschritten wird. Die Notierung stellt nur die »res facta« dar. Sie ist die Vorlage für den spontanen Prozeß des Musizierens.
Die Konsequenzen aus der Eigenart der erreichten Stilstufe zeichnen sich ab in den Liedern nach Gedichten von Franz Werfel. Die Liedstruktur ist für den neuen Ausdruckswillen zu eng geworden. Das Lied drängt zur Kantate, der ausgebaute Klangsatz zur Ausführung durch das Orchester. So sind zwei der fünf Werfel-Lieder aus der ersten Hälfte des Jahres 1920 in die Großform der Chorkantaten der dreißiger Jahre übergegangen: Ein Liebeslied als a cappella-Satz, Der gute Mensch für Doppelchor über einem vielfarbig instrumentierten Perkussionsklangfeld. Das der Dichtung Werfels eigene hymnische Ansingen eines Gegenüber, der rhapsodische Schwung seiner Wortgesten und Metaphern, das O Mensch-Pathos glühender Empfindung kam dem Ausdruckswillen Orffs in der damaligen Phase seiner Stilfindung besonders entgegen. Es ist bezeichnend für seine überschäumende Expressivität, daß er in der Kantatenfassung von Der gute Mensch diesen Titel des Gedichts nicht nur als Rahmen mitkomponiert hat, sondern ihn auch als fanfarenartige Devise nach jeder Gedichtzeile vom ersten Chor in den Textvortrag des zweiten Chores hineinrufen läßt.
Der Vorblick auf die Kantaten weist dem Sänger und dem Pianisten die Richtung für einen angemessenen Vortrag der Lieder. Es dürfte von besonderem Reiz sein, die Sprengkraft der in einer Grenzposition angesiedelten Stücke in der Wiedergabe spürbar zu machen, zudem sie in ihrer Physiognomie stark unterschiedlich und individuell geprägt sind. Während die beiden Sonette Als mich dein Wandeln an den Tod verzückte und Rache als hymnische Exklamationen gestaltet sind, stellen Ein Liebeslied und Mondlied eines Mädchens meditative Monologe in freier Linearität der Sprachführung und modaler Färbung der Melodik dar, das erste ein in sich kreisendes Klangmobile, das zweite eine schwebende Klangform von gläserner Transparenz, in psalmodierendem Rezitationston über einem passacagliaartigen Gerüst auf Orffs spätere »Lamenti« vorausweisend. Der gute Mensch, einst zu Werfels berühmtesten Gedichten zählend, ist das Muster einer vertikal gegliederten, spiegelbildartig gebauten Pfeilerarchitektur. Das Klavier spielt die Singstimme von Ton zu Ton mit; die Komposition ist somit schon als instrumentale Struktur komplett. Auch hier ist der Pianist gehalten, sich die Spannungen der Spiegelklänge nach eigener Einsicht zurechtzulegen.
Die frühen Lieder sind nicht nur Dokumente des sich entfaltenden Personalstils Orffs; nicht nur Zeugnisse einer von Jugendstil und Art nouveau beherrschten Epoche; sie sind weit darüber hinaus originäre und singuläre Musizierformen ohne Vergleich: rhapsodische Eruptionen eines jeweils improvisatorisch inspirierten Augenblicks. Von melischer Kantabilität wie von textgezeugter Expressivität geprägt können sie in konzertanter Wiedergabe den legitimen Anspruch auf »effetto« bei Ausführenden und Zuhörern stellen – Grund genug, um sie dem Sänger und dem Pianisten zu einer ungewöhnlichen Erweiterung ihres Repertoires zugänglich zu machen.
* Vgl. Carl Orff und sein Werk, Dokumentation Bd. I, Hans Schneider, Tutzing 1975, wo das frühe Schaffen ausführlich dargestellt ist.
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Besetzung: Solisten, Chor, Orchester
Sprache: deutsch, altgriechisch
Entstehungszeit: 1940–1967
Werkteile / Gliederung
Die Griechischen Tragödien sind als thematische Gruppierung ohne hierarchische Ebene zu verstehen. Alle Werke sind einzeln aufführbar. Obgleich sich eine Auffühung im Verbund anbietet, bestehen keine zwingenden Vorgaben zur gemeinsamen Aufführung, zur Aufführung in zyklischer Form oder in einer bestimmten Reihenfolge.
1. Antigonae – Ein Trauerspiel des Sophokles in der deutschen Übersetzung von Friedrich Hölderlin (1949)
2. Oedipus der Tyrann – Ein Trauerspiel des Sophokles in der deutschen Übersetzung von Friedrich Hölderlin (1959)
3. Prometheus – Tragödie des Aischylos (1967)
Informationen zu Handlung und Besetzung finden sich bei den jeweiligen Einzelwerken
Kommentar
Orff vertonte die Tragödien Antigonae und Oedipus der Tyrann des Sophokles, beide in der Übertragung Hölderlins, sowie Prometheus von Aischylos im altgriechischen Original Wort für Wort und ohne jede Kürzung. Der Komponist verzichtete bewußt auf jeglichen Eingriff in den Text; dies allein war bereits ohne jedes Vorbild. Orff wollte die Tragödie, nicht ein für die Erfordernisse der Musik zurechtgemachtes Libretto. Damit unterscheiden sich die griechischen Tragödien grundlegend nicht nur yon allen »Antikenopern«, sondern auch von den sogenannten »Literaturopern«, deren dramatischer Vorwurf in der Regel ebensolchen Bearbeitungen unterzogen wird. Außerdem sind die Texte der Literaturopern durchweg geprägt von der Dramaturgie des neuzeitlichen Sprechtheaters; Musik tritt damit von vornherein als zusätzliches, nicht ursprünglich in der Konzeption enthaltenes Element hinzu.
Ganz anders verhält es sich dagegen mit der attischen Tragödie: Sprache, Musik und Tanz bildeten eine untrennbare Einheit, die ihrerseits Form und Dramaturgie bestimmte. Orff respektierte diesen formalen Aufbau, ließ ihn unangetastet und bewahrte dadurch weitestgehend die originalen Proportionen, den »Rhythmus im Großen«.
Die attische Tragödie besteht im wesentlichen aus dem Wechsel von Dialogpartien bzw. Epeisodien (größtenteils gesprochen im Versmaß des jambischen Trimeter) und Chorliedern bzw. Stasima (gesungen in lyrischen Maßen). Dem Prolog folgt das Einzugslied des Chors, die Parodos. Es schließen sich mehrere Epeisodien und Stasima an; der Abschnitt nach dem letzten Stasimon wird als Exodos bezeichnet. Innerhalb der Epeisodien finden sich folgende Bauformen: die Rhesis, die Stichomythie, die Monodie und das Amoibaion.
[…] Orff beachtete die formalen Vorgaben in allen drei Werken sehr genau und setzte sie entsprechend um; denn unbelastet von einer musikgeschichtlichen Tradition boten ihm die Bauformen der Tragödie innerhalb eines gewissen Rahmens noch genügend Freiräume, immer wieder anders zu verfahren und neue Gestaltungsmöglichkeiten zu erfinden oder ältere Formen wiederaufzugreifen.
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Kantaten nach Texten von Bert Brecht
für gemischten Chor, Klaviere und Schlaginstrumente
Textdichter/-vorlage: Bertolt Brecht
Besetzung: gemischter Chor, 3 Klaviere, Schlagzeug
Sprache: deutsch, englisch
Entstehungszeit: 1930–1973
Aufführungsdauer: 17′
Werkteile / Gliederung
Die Kantaten nach Texten von Bert Brecht beihalten folgende Werke:
1. Von der Freundlichkeit der Welt (1930, revidiert 1973)
2. Vom Frühjahr, Öltank und vom Fliegen (1931, revidiert 1968)
Die beiden Teile sind auch einzeln aufführbar.
Informationen zu Handlung, Besetzung und Aufführungsmaterial finden sich bei den jeweiligen Einzelwerken.
Kommentar
I Von der Freundlichkeit der Welt
Die erste Dreierfolge hat Orff Brechts »Hauspostille« entnommen, in der überwiegend um 1920 entstandene Gedichte unter bestimmten Leitthemen zu »Lektionen« zusammengefaßt sind.
»Von der Freundlichkeit der Welt« und »Großer Dankchoral« aus den »Exerzitien« – Brecht nennt sie in ironischer Pervertierung christlicher Formen »geistige Übungen« – hat Orff mit dem als »Schlußkapitel« gekennzeichneten Schlüsselgedicht »Gegen Verführung« zusammengenommen, das in frühen Manuskripten Brechts den Titel »Luzifers Abendlied« trug.
Die drei Gedichte boten sich zur Vertonung an. Brecht selbst hatte der »Hauspostille«, ihrem Gebrauchscharakter als Parodie eines Gesangbuches entsprechend, »Gesangsnoten« mitgegeben. Es sind aber wohl nur und gerade diese drei Gedichte, die sich für den Orff-Stil der ersten Folge als geeignet erwiesen.
Orff hatte bereits in der dritten Werfel-Kantate Texte vertont, in denen sich die preisende Hymnik in eine klagende und anklagende gewandelt hatte. In dem Aufruf zum Anrennen »gegen die alte, die elende Zeit« und in der Verzweiflung über die Flüchtigkeit des Irdischen waren Töne der Negation laut geworden.
Brecht macht ernst mit der totalen Negierung. Er ist der Antipode der expressionistischen Sprachgeste. Der »Große Dankchoral« als Parodie auf den Choral »Lobe den Herren« ist unvergleichbar mit Werfels parodierender Metamorphose des »Veni creator«.
Wie Brechts Gestalt des Baal als »verkommener Gott« die Antifigur zu Werfels »gutem Menschen« darstellt, so pervertiert seine Lyrik die überschäumende Metaphorik Werfels ins Negativ.
Ich habe zu verstehen gegeben, daß man das hohe Lied von mir nicht mehr erwarten darf. (»Vier Psalmen«)
In der Maske des Erbaulichen nimmt die Parodie Züge des Ironischen, des Grotesken, des Höhnischen oder des Zynischen an. So konnte Karl Thieme das lyrische Werk Brechts »Des Teufels Gebetbuch« nennen.
Aber gerade die drei von Orff aus der »Hauspostille« gewählten Gedichte sind auf ihre Untertöne auszuhören. Es ist zu fragen, ob hier nicht die poetische Intention die dogmatisch-didaktische überrundet hat. Die Gedichte entspringen kaum dem Haß auf die ästhetische Distanz, sondern sagen urmenschliche Daseinsnot in unpathetischer Sprache aus. Herbert Lüthy (Fahndung nach dem Dichter Bertolt Brecht, Zürich 1972, 14) hat an die Nähe zu dem Vanitas-Bewußtsein der Barocklyrik erinnert, allerdings ohne deren religiöse Jenseitswendung und Klage. Er nennt Orffs Titelstück »Von der Freundlichkeit der Welt« »vielleicht das schönste Gedicht Brechts, in dem aller Tumult verstummt« (S. 17).
Orffs Personalstil entsprach dieser Haltung insofern, als die von ihm geleistete materiale Reduktion der satztechnischen Mittel auf die ebenfalls total reduzierte Sprache des »armen B. B.« unmittelbar adaptierbar war.
Freilich wäre es ein Mißverständnis, wenn man die Pervertierung des hohen Stiles in einen niederen – die Rhetoriker würden von dem Wechsel des ›stilus gravis‹ in den ›stilus humilis‹ sprechen – als eine Primitivierung ansähe. »Die Virtuosität ist auf den Gipfel getrieben, wenn bei völliger Beschneidung der Mittel ein Höchstmaß von direkter Wirkung erreicht wird.« Dieser von Clemens Heselhaus (Deutsche Lyrik der Moderne, Düsseldorf 1961, 333) über die lyrische Sprache Brechts formulierte Satz trifft genau auch auf die damalige Stilsituation Orffs zu. Der Kongruenz der beiderseitigen Stillagen werden Orffs Chorsätze nach Brecht verdankt.
[…]
II Vom Frühjahr, Öltank und vom Fliegen
Die Titel zeigen gegenüber der ersten Folge den veränderten Bereich der Brechtschen Dichtung. War die erste Folge der Reflexion über die »Befindlichkeit« des Menschen schlechthin zugeordnet, so ist jetzt das Maschinenzeitalter und seine Folgen auf das Bewußtsein des Menschen Gegenstand eines Reports. Diese Thematik bricht sich in Brechts Abneigung gegen die Verherrlichung der modernen, seiner Ansicht nach kapitalistischen Technik. So wird etwa das Gedicht auf den »Öltank« zu einem »ironischen Abgesang« auf die Neue Sachlichkeit.
Die Wandlung der Position Brechts wird sichtbar an dem Aufgeben der gebundenen Sprache. Die lyrische Sprache ist abgelöst durch eine zeilenweise gereihte, nach bestimmten Manieren stilisierte Prosa, die Brecht selbst als den »Tonfall der direkten momentanen Rede« bezeichnet hat. Der Lyriker Brecht ist zum Dialektiker geworden.
Diese prosahafte Zeilenkomposition ist so musikfern wie nur möglich. Aber gerade ihr provokativer Charakter mag den Musiker gereizt haben. Eine derartige Sprache bedarf nicht der individuellen Komposition, sondern der kollektiven Proklamation. Sie will grell, plakathaft, sprechchorartig hallend vorgetragen werden. Orff war das bewußt, als er im Vorwort zum »Werkbuch II« schrieb:
»Die Texte dieser Chöre müssen vor allem mit großer Prägnanz und Schärfe, oft sich dem Sprechen nähernd, vorgetragen werden.«
Er hätte hinzufügen können, daß diese Sätze auch im Schlagwerk sehr pointiert und intelligent begleitet werden müssen. Denn die diesem Sprechmusizieren eigene Atmosphäre aus Hintersinn, Groteske und Ironie muß von der Begleitung entscheidend mitgetragen werden.
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Kantaten nach Texten von Franz Werfel
für gemischten Chor, Klaviere und Schlaginstrumente
Textdichter/-vorlage: Franz Werfel
Besetzung: gemischter Chor, 2–3 Klaviere, Schlagwerk
Sprache: deutsch, englisch
Entstehungszeit: 1930, revidiert 1968
Aufführungsdauer: 25′
Werkteile / Gliederung
Die Kantaten nach Texten von Franz Werfel beihalten folgende Werke:
I Veni creator spiritus (1930/1968)
II Der gute Mensch (1930/1968)
III Fremde sind wir (1930/1968)
Die drei Teile sind auch einzeln aufführbar.
Informationen zu Handlung, Besetzung und Aufführungsmaterial finden sich bei den jeweiligen Einzelwerken.
Kommentar
Nach einem Hinweis im Vorwort der Erstausgabe hat Orff die Kantaten I und II als geistige und stilistische Einheit empfunden. Daher ist hier eine resümierende Darstellung des Kompositionsstiles angebracht.
Der Prozeß der musikalischen Erfindung hat sich grundlegend gewandelt. Sie zielt jetzt nicht mehr auf eine detaillierte Entfaltung melodischer oder harmonisch‑tonaler Fortschreitungen zur diskursiven Interpretation des Textsinnes. Sie richtet sich vielmehr auf die Konfiguration einer der Gesamtvorstellung adäquaten musikalischen Chiffre. Sie wird als Klangzelle von hoher konzentrativer Potenz entworfen und fungiert als ostinate Formel. Klangträger ist das Schlagwerk, in das die Klaviere voll einbezogen sind. Durch ständige Wiederholung der Klangzelle bildet sich ein pointillistisches Perkussionsklangfeld. Es stellt in genau kalkulierten Proportionen ein instrumentales Äquivalent zu bestimmten Bildern und Formen der erklingenden Sprache dar. Sprachklang, Wortsinn und Bildform potenzieren sich in der Musik. Aus der Gegenspannung der vokalen und instrumentalen Komponenten entstehen Großformen des Musizierens, die in der damaligen Musik ohne Parallelen sind.
Grundlegend für den Kantatenstil war die Entdeckung exotischer Perkussionsinstrumente und die in der Schulwerkarbeit damit gesammelten Erfahrungen. Mit höchster Sensibilität mußten die Klangspektren ermittelt und durch ständige Erprobung der verschiedenen Materialien und Schlagtechniken mit den eigenen musikalischen Vorstellungen zusammengeführt werden.
Diese Entwicklung Orffs hängt zusammen mit der Neuentdeckung des klanglichen Prinzips schlechthin. Er erprobt die materiale Wucht von »Primärformen des Klanges« (eine Formulierung Rudolf von Fickers aus dem »Kantatenjahr« 1929!) bis zur Grenze des musikalisch Darstellbaren. Klang ist nicht mehr Rohmaterial, sondern ordinärer Kompositionsfaktor. Die Wiederholung gleichgeartet organisierter Klangmontagen oder Klangfelder bedeutet nicht Monotonie, sondern spezifische Gestaltbildung. Orff erfindet vom Instrument her. Das Schlagwerk ist für ihn nicht mehr Medium der Instrumentation, sondern primärer Bestandteil der Komposition.
Mit diesen Prinzipien steht Orff in enger Affinität zur Monophonie, zur Paraphonie und zu ostinaten Gerüsttechniken der Weltmusik, aber auch zu der klanglichen Tektonik in der musikalischen Kathedralkunst des europäischen Mittelalters. Die – Orff damals wohl unbewußte oder unbekannte – zeitliche Konvergenz ist verblüffend: im April 1929 fand in Wien die erste »moderne« Aufführung eines Notre Dame‑Organum von Perotin statt (»Sederunt principes« von 1199 in der Einrichtung Rudolf von Fickers).
Die in »Nacht« statuierte Nachbarschaft des Klangsatzes zu der Welt des Gamelan aber bedeutet keine modische Maske, sondern legt eine dem Stilwillen Orffs wesenhafte Korrelation zu fernöstlicher Kunst offen.
Seine Wendung zu dem Schlagwerkinstrumentarium der Weltmusik und zugleich zu den Phänomenen des Klangtektonischen signalisiert nicht nur die grundlegende Einstellung des Schöpfers von Musik, sondern betrifft auch die des Hörers zur Musik. Musizieren als Konfrontation mit den primären Klangphänomenen bedeutet rezeptionsästhetisch den Abbau des bloßen Genießens von Musik durch die Auslösung eines elementaren Betroffenseins. Das aber berührt die magische Komponente der Musik.
[…]
Die dritte Kantate zeigt durch den Verzicht auf Schlagwerk und durch die Reduzierung der mitwirkenden Instrumente auf chorisch besetzte Violinen und Kontrabässe einen stark veränderten Ton. Das hymnische Ansingen pervertiert in exaltierte Beschwörungen von Widerstandskräften gegen den Andrang existenzieller und zeitgebundener Bedrohung.
Diese ins Musikalische projizierte Haltung bedeutet auch eine Veränderung, ja Annullierung der rezeptionsästhetischen Distanz: »Der Schluß des 2. Chores der Kantate ›Fremde sind wir‹ – von Takt 20 ab – soll von allen Anwesenden mitgesungen werden.« So im Vorwort der Kantate III, die sich damit betont zu einer Form des »Wir« bekennt. Der »Sterbensschrei des Individualismus« hatte sich in eine Sehnsucht nach einer neu zu gewinnenden Gemeinschaft gewandelt. Daher heißt es im gemeinsamen Vorwort zu allen drei Kantaten: »Sie suchen den Anschluß an diejenige geistige Einstellung, welche von dem Subjektivismus und der Isoliertheit des Einzelnen zu einem bindenden allgemein gültigen Gemeinschaftsempfinden führen soll.«
Die damit verbundenen Folgen für eine Vereinfachung der Satztechnik werden nicht als Verzicht, sondern als Möglichkeit der Steigerung empfunden. Denn es heißt weiter: »Die Einfachheit der Anlage … soll … ein Höchstmaß an Intensität ermöglichen.«
Der Stil der Kantate III ist der konsequenteste Beleg für diese Forderungen. Die Reduktion der Mittel ist bis zum äußersten getrieben. Die Starre, Härte und Nacktheit der Klänge ist provozierend, am radikalsten im Mittelsatz »Fremde sind wir« mit der Beschränkung des Materials auf eine Leiermelodik von fünf Tönen, auf ein Unisono aller Stimmen, schließlich mit der pervertierten Verwendung von Streichern als Perkussionsinstrumenten unter Bevorzugung der leeren Saiten.
Unter der hymnischen Attitude verbirgt sich der Verzweiflungsschrei. Das Ende der Werfel‑Phase Orffs kündigt sich an.
[…]
In einer späteren Fassung wurden statt der Streicher wieder Klaviere, Pauken und Schlagwerk eingesetzt.
Die drei Kantaten waren in Einzelausgaben gedruckt, aber unter dem Titel Werkbuch I zu einer Einheit zusammengefaßt. Darin spiegelt sich eine Idee der Zeit wider. Das Bauhaus in Weimar war der sichtbare Beweis dafür, daß die Werkvorstellung im allgemeinen Bewußtsein mit einem besonderen begrifflichen und emotionalen Inhalt virulent geworden war.
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Trittico teatrale liberamente tratto da opere di Claudio Monteverdi
für Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bass, Sprecher, gemischten Chor, Tanzgruppe und Orchester
Besetzung: Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bass, Sprecher, gemischter Chor, Tanzgruppe und Orchester
Sprache: deutsch, italienisch
Uraufführung: 30. November 1940 in Gera (D) · Dirigenten: Carl Orff (Teil I und III), Georg C. Winkler (Teil II) · Inszenierung: Rudolf Scheel · Bühnenbild: Alfred Siercke
Uraufführung unter dem Titel Lamenti: 15. Mai 1958 in Schwetzingen (D) · Dirigent: Ferdinand Leitner · Inszenierung: Paul Hager · Bühnenbild: Jean-Pierre Ponnelle
Spieldauer: 100′
Aufführungsmaterial Schott Music
Werkteile / Gliederung
Das Triptychon verbindet die drei Monteverdi-Bearbeitungen Carl Orffs in folgender Reihenfolge:
I. Klage der Ariadne – Lamento d’Arianna (1925/1940)
II. Orpheus – L’Orfeo (1922–1940)
III. Tanz der Spröden – Ballo delle Ingrate (1925/1940)
Alle Teile sind auch einzeln aufführbar.
Informationen zu Handlung und Besetzung finden sich bei den jeweiligen Einzelwerken.
Kommentar
Orffs Beschäftigung mit Monteverdi wurde 1921 von Curt Sachs, dem damaligen Leiter der Staatlichen Musikinstrumentensammlung Berlin, angeregt. Dieser hatte einen Abend mit Orffs Vertonungen von Werfel-Gedichten besucht, war bei dieser Musik spontan an Claudio Monteverdi erinnert worden und legte dem jungen Komponisten, dessen musikdramatische Begabung ihm sofort ins Auge fiel, die Beschäftigung mit dem italienischen Renaissance-Komponisten ans Herz. Orff fing umgehend Feuer und wurde mit dem ersten Schlüsselerlebnis seiner Laufbahn belohnt: Er stellte fest, dass seine eigene Vorstellung von bühnendramatischer Musik Monteverdis Musikdenken ausnahmslos entsprach.
In der Folge beschäftigte er sich umfassend mit dem damals noch recht vergessenen Komponisten, recherchierte intensiv zu seinem Werk und kam zum Schluss, dass die vorliegenden Ausgaben allein von musikhistorischem Interesse, für einen Bühnenumsetzung aber nicht praktikabel waren.
Aufgrund dessen begann er eine szenisch-musikalische Bearbeitung von Werken von Monteverdi – zuerst von Orfeo, danach von Lamento d’Arianna und zuletzt von Ballo delle Ingrate. Ursprünglich geplante Fassungen von Il ritorno d’Ulisse in patria und L’Incoronazione di Poppea wurden nicht weiter verfolgt.
Es war nicht in Orffs Sinne, dass seine Orpheus-Bearbeitung, vor allem in den dreißiger und vierziger Jahren, immer weiter mit anderen, mehr oder minder passenden Einaktern kombiniert wurde (beispielsweise mit Die Kluge oder Carmina Burana). Deshalb, und um die Zusammengehörigkeit seiner drei Monteverdi-Bearbeitungen zu betonen sowie eine Komplettaufführung voranzutreiben, fügte Orff die drei Werke 1958 unter dem Renaissance-Begriff der Klage (Lamento) zu den Lamenti (Klagelieder) zusammen: die Klage einer Frau (Ariadne), kombiniert mit der Klage eines Mannes (Orpheus) und der satirischen Klage von törichten Mädchen (die Spröden). Für die Komplettaufführung der Lamenti schwebte dem Komponisten dementsprechend ein werkübergreifender Ausstattungsstil vor.
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Besetzung: Schauspieler, Solisten, Chor, Orchester, Tonbandeinspielung (ad. lib.)
Sprache: deutsch, englisch
Entstehungszeit: 1917–1971
Werkteile / Gliederung
Zur Werkgruppe der Märchenstücke zählen folgende Kompositionen:
1. Der Mond – Ein kleines Welttheater (1938/1971)
2. Die Kluge – Die Geschichte von dem König und der klugen Frau (1942)
3. Ein Sommernachtstraum – Schauspiel von William Shakespeare (1917–1962)
Die Märchenstücke sind als thematische Gruppierung ohne hierarchische Ebene zu verstehen. Sie bilden keine Einzelteile eines Gesamtwerks. Alle Werke sind einzeln aufführbar. Obgleich sich eine Aufführung im Verbund anbietet, bestehen keine Vorgaben zur Aufführung in zyklischer Form oder in einer bestimmten Reihenfolge.
Kommentar
Über den Einfluss von Shakespeare auf sein eigenes Werk schrieb Orff: »Vom abendländischen Theater hat nichts so stark auf mich gewirkt wie die griechischen Tragiker und Shakespeare. Beide haben mich ein Leben lang begleitet und zur künstlerischen Auseinandersetzung gereizt. Meine periodisch wiederkehrende Beschäftigung mit Shakespeare hat auf die meisten meiner Werke ihren Einfluß gehabt, auch wenn ich nur eines seiner Stücke – den ›Sommernachtstraum‹ – mit Musik versehen habe. Nicht nur meine Vorliebe für die Simultanbühne, auch die vier Burschen aus dem ›Mond‹, die drei Strolche mit ihrem Rüpelspiel aus der ›Klugen‹ […], sie alle sind ohne Shakespeare nicht denkbar.« (Orff 1979, 219).
Alle drei von Carl Orff selbst als Märchenstücke zusammengefassten Werke basieren auf überlieferten Märchen oder märchen- und mythenhaften Stoffen. Obgleich die Stücke, anders als etwa die Lamenti oder die Trionfi, letztlich kein zusammenhängendes Tryptichon bilden, so gehören zumindest Der Mond und Die Kluge doch »innerlich zusammen« (Jans 1994, 5). Beide Stücke basieren auf Erzählungen, die sich unter anderem in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm wiederfinden. Beide Stücke entwuchsen Orffs Intention einer »szenischen Musikalisierung der Gattung Märchen […]. Das entspricht seinem zyklischen Denken; es entspricht aber zugleich dem Instinkt des Szenikers und Theaterpraktikers, in einer Kontrastharmonie dem kosmischen ›Mythenabkömmling‹ Mond ein Schwankmärchen, eine Geschichte, […] von lauter Lebendigen gespielt (Orff), an einem Theaterabend zur Seite zu stellen.« (Thomas 1994, 78). Die Entstehungsgeschichte dieser beiden Stücke zeigt sich als »symptomatischer Prozeß für die radikale Lösung von der Oper und die Neukreation des Märches zu einer eigenständigen Gattung des Musiktheaters. Sie ist aber auch paradigmatisch für die Wegsuche des Künstlers und des Menschen Orff. Diese Schaffensphase bedeutet das Vermessen und Ausleuchten der Theaterlandschaft nach Maßgabe seiner szenischen Imagination und das Ausloten ihrer Tiefe.« (Thomas 1994, 169 f.).
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Trittico teatrale
für Sopran, Tenor, Bariton, gemischten Chor, Knabenchor und Orchester
Besetzung: Sopran, Tenor, Bariton, gemischter Chor, Knabenchor und Orchester
Sprache: altgriechisch, altfranzösisch, lateinisch, mittellateinisch, mittelhochdeutsch
Entstehungszeit: 1934–1951
Uraufführung szenisch: 14. Februar 1953 Mailand, Teatro alla Scala (I) · Dirigent: Herbert von Karajan · Inszenierung: Herbert von Karajan · Kostüme: Joseph Fenneker · Bühnenbild: Joseph Fenneker
Uraufführung konzertant: 5. März 1953 München, Saal der Residenz (D) 8. Symphonieorchester des Rundfunkorchesters · Dirigent: Eugen Jochum · Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks · Chor des Bayerischen Rundfunks · Choreinstudierung: Josef Kugler
Aufführungsdauer: 155′
Aufführungsmaterial Schott Music
Werkteile / Gliederung
Das Triptychon verbindet die drei folgenden Werke in der angegebenen Reihenfolge:
I. Carmina Burana – Cantiones profanae (1936)
II. Catulli Carmina – Ludi scaenici (1943)
III. Trionfo di Afrodite – Concerto scenico (1951)
Alle Teile sind auch einzeln aufführbar
Informationen zu Handlung und Besetzung finden sich bei den jeweiligen Einzelwerken
Kommentar
Der Titel des Triptychons greift zurück auf die sogenannten »Trionfi«, die Prunk- und Maskenzüge in den italienischen Republiken und Fürstentümern der Renaissance: Bei diesen Umzügen wurden traditionell Helden und Götter der Antike samt Gefolge präsentiert. Allerdings steht in Orffs Trionfi nicht eine mythische Gestalt im Handlungszentrum, sondern die weltbeherrschende Triebkraft der Liebe selbst wird in ihren unterschiedlichsten Facetten gezeigt. Diese Triebkraft wird dabei gewissermaßen rückschreitend zu den Anfängen unserer okzidentalen Geschichte erforscht: vom Mittelalter zurück in die römische Antike, und von dort zurück ins alte Griechenland.
Dabei entspricht der Dreiteilung der gesamten Orffschen Trionfi einerseits die Dreiteilung der Dichtung (griechische Hochzeitslyrik, lateinische Liebespoesie und mittellateinische/mittelhochdeutsche Liebes- und Vagantendichtung) sowie andererseits eine Dreiteilung der Zeiten (griechische Antike, römische Antike und Mittelalter). Selbst in den einzelnen Werken wirkt die Dreizahl prägend: Die Carmina Burana teilen sich einerseits in Hauptteil und Rahmenhandlung sowie im Hauptteil in die Abschnitte Uf dem anger, In taberna und Cour d’amours; Catulli Carmina wiederum fächern sich auf in Vorspiel, Haupthandlung und Nachspiel; und Trionfo di Afrodite schließlich gliedert sich in die drei Teile Erwarten des Brautpaars, Hochzeitsbräuche sowie Ankunft der Liebesgöttin. Und ihr, der personifizierten Liebe, gilt als zentraler Gestalt der ganzen Trionfi auch der apotheotische Schlussgesang des Triptychons.