Vokalwerke
-
Gemischter Chor a cappella
Textdichter/-vorlage: anonym
Besetzung: gemischter Chor (SATB)
Sprache: lateinisch
Entstehungszeit: ca. 1912–1914
Erste öffentliche Aufführung: 23. Juli 1982 in Traunstein, Stadtpfarrkirche St. Oswald (Musiksommer zwischen Inn und Salzach) · Dirigent: Fritz Schieri · Kammerchor der Hochschule für Musik München
Aufführungsdauer: 2′
Aufführungsmaterial Schott Music
Inhalt
Text:
Ave, ave Maria! Ave ave!
Gratia plena;
Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus, benedictus fructus ventris tui.
Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae!
Ave, ave Maria, ora pro nobis!
Sancta Maria, ora pro nobis!
Mater Jesu, ora pro nobis!
Mater Dei, ora pro nobis, pro nobis!
Amen! Amen!Kommentar
Die marianische Antiphon »Ave Maria« für vierstimmigen gemischten Chor ist ein Jugendwerk Carl Orffs. Sie entstand zwischen 1912 und 1914 als Studienarbeit an der Münchner Akademie der Tonkunst, der heutigen Hochschule für Musik. Noch der spätcäcilianischen Tradition verpflichtet, weist die Komposition doch auch schon typische Stilmittel der späteren Jahre auf, wie die Stimmführung im Unisono, harmonische Rückungen oder den charakteristischen Gebrauch des Oktavintervalls. Das »Ave Maria« ist das einzig liturgische Kirchenwerk des Komponisten, der sich in seinem Schaffen vom Osterspiel »Comoedia de Christi resurrectione« [sic!] bis zum Spätwerk »De fine temporum comoedia« [sic!] immer wieder mit tiefgründigen religiösen Fragen und Komplexen auseinandergesetzt hat.
Ein Stimmensatz im Nachlaß läßt eine Aufführung im engeren Kreis bald nach der Entstehung vermuten. Die wohl erste öffentliche Aufführung fand im Rahmen des »Musiksommers zwischen Inn und Salzach« am 23. Juni 1982 in Traunstein durch den Kammerchor der Hochschule für Musik München unter Fritz Schieri statt.
Das Autograph (Mus.ms.12597) befindet sich seit 1977 im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek München. Zusätze des Herausgebers wurden in eckige Klammern gesetzt. Die originalen Atemzeichen Orffs sind als kleine Schrägstriche entsprechend dem Autograph wiedergegeben, weitere Atemzeichen aus chorpraktischen Gründen als Kommazeichen.
-
Zwölf alte Melodien für Singstimmen oder Instrumente
Textdichter/-vorlage: diverse
Besetzung: gemischter Chor (SATB)
Sprache: deutsch, mittelhochdeutsch, lateinisch
Entstehungszeit: 1925–1932
Publikationsjahr: 1932 [ohne Editions-Nr.]
Aufführungsdauer: 8′
Diese Auflage ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Siehe auch: Orff-Schulwerk. Jugendmusik – Cantus-Firmus-Sätze
Aufführungsmaterial Schott Music (Neuauflage 1982, ED 4454)
Inhalt
Es ist ein Ros entsprungen
Christ ist erstanden
Veni creator spiritus
O Lux beata trinitas
Media vita
Spottlied (Ach du armer Judas)
Spottlied (Winteraustreiben)
Mein G’müth ist mir verwirret
Insbruck, ich muß dich lassen
Ach sorg, da mußt zurücke stan
Der grimmig Tod
Ich wolt, daß ich doheime wer
Kommentar
Diese Sätze können beliebig von Singstimmen und Instrumenten, auch in anderen als den vorgeschriebenen Tonarten ausgeführt werden.
Bei verschiedenen ist es ratsam, jeweils nach Verwendung und Gelegenheit Neutextierungen vorzunehmen. Wie wenig diese alten Melodien an eine textliche Vorstellung gebunden sind, zeigen die in den Anmerkungen beigegebenen Textvarianten, die nicht historisch, sondern als Hinweise zu verstehen sind.
Carl Orff
***
Anmerkungen:
zu I:
Altes Marienlied, das wohl schon dem 15. Jahrhundert angehört. Im Mainzer Cantual 1605 wird es »Das alt Chatholisch Triersche Christliedlein« genannt.
F. M. Böhme, Altdeutsches Liederbuchzu II:
Das Osterlied »Christ ist erstanden von der marter alle« ist nach literaturhistorischen und hymnologischen Forschungen das älteste erhaltene Lied des deutsch-geistlichen Volksgesanges, das aller Wahrscheinlichkeit nach schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts bekannt war, da wir es bereits im Laufe des 13. Jahrhunderts als ein bekanntes erwähnt finden. Es scheint auch in Osterspielen ein üblicher Gesang gewesen zu sein.
F. M. Böhme, Altdeutsches Liederbuchzu III:
»Veni creator spiritus« vielleicht ältester Hymnus auf den heiligen Geist. Stammt wahrscheinlich von Hrabanus Maurus († 856) und war vom 9. Jahrhundert an sehr verbreitet.
Buchberger, Kirchliches Handlexikonzu IV:
Ambrosius († 397) gilt mit Gewißheit als Verfasser.
Böhring, Choralkundezu V:
Der deutsche Text ist eine freie Obersetzung des »Media vita«, einer lateinischen Dichtung von Notker Balbulus zu St. Gallen († 910), welche er vor 880 dichtete und die mit ihrer neumierten Melodie im St. Gallener Codex erhalten ist. Nach einer Sage soll Notker zu dem Gedicht angeregt worden sein, als er beim Bau einer Brücke über das MartinsTobel die Gefahr der über dem tiefen Abgrund schwebenden Werkleute sah. Das lateinische Gedicht ist in ganz Europa verbreitet. Der Anfang des Originals lautet: Media vita in morte sumus, quem quaerimus adjutorem, nisi te domine, qui pro peccatis nostris juste irasceris …
Deutsche Bearbeitungen sind schon im 14. Jahrhundert bekannt. Man legte dem Liede sogar abergläubische Wirkungen bei, sodaß 1316 eine Kölner Synode verordnete »Niemand solle dieses Lied ohne Erlaubniß eines Bischofs gegen Jemanden singen.« Der deutsche Gesang wurde im Felde als Kriegsgesang gebraucht und auf Meereswogen übertönte er die Schrecken des Todes.
F. M. Böhme, Altdeutsches Liederbuchzu VI:
O du armer Judas, was hast du getan,
daß du unsern Herren also verraten hast !
Darumb mus tu leiden in der helle pein,
Lucifers geselle mus tu ewig sein.
Kyrieleison.Diese etwas plärrende, wehleidig-spöttische Melodie nach dem »Laus tibi Christe qui pateris«, die wir auch in der Geschichte des Passionsdramas wieder antreffen werden, hat eine große Rolle als Mittel politischer lronie gespielt. Kaiser Maximilian I. fuhr, als er den Regensburgern wegen ihrer treulosen Haltung gegen das Reich zürnte, auf einem Donauschiff an der Stadt vorüber und ließ von der Hofkapelle instrumentaliter »carmen illud maledictum Ach du armer Judas« blasen, was sich die Bürger vom Ufer her mit roten Köpfen anhörten. Zahllos sind dann die Parodien in den Reformationskämpfen: 1520 sang man wider Thomas Murner »O du armer Murr-Narr, was hastu getan, daß du also blint in der heiligen Schrift bist gan?« und 1541 griff Luther es in seiner Schrift »Wider Hans Worst’« gegen Herzog Heinrich von Braunschweig auf: »Ach du arger Heintze, was hastu gethan, das du vil fromme Menschen durch fewer hast morden lan?« Die Katholischen sangen es auf Zwingli, in der »Historia Dr. Johann Fausten« (Frankfurt a. M. 1587) singt es der böse Geist dem Faust vor, und noch im Dreißigjährigen Krieg prägte man es auf den flüchtigen Winterkönig um, während es mit dem Text »O wir armen Sünder« (1550) bis heute als protestantischer Choral fortlebt.
nach H. J. Moser, Geschichte der deutschen Musikzu VII:
So treiben wir den Winter aus
durch unsere Stadt zum tor hinaus
mit sein betrug und listen,
den rechten antichristen.
Wir stürzen in von berg zu tal,
damit er sich zu tode fall,
und uns nicht mehr betrüge
durch falsche ler und lüge.Das Lied vom Winteraustreiben oder Todaustragen ist ein uraltes Volkslied. Sein Inhalt und die Zeremonie bei seiner Ausführung hängt noch mit der altgermanischen Mythologie zusammen. Es wurde von der Jugend heim Frühlingsfeste am Totensonntage (Laetare, in Mitterfasten) gesungen unter Vorantragen einer Strohpuppe, die den Winter darstellen sollte.
Auf die gleiche Melodie die Lieder vom Papstaustreiben, auch »ein new liedt vom Interim« (1548):
Bewar mich godt vorm Interim,
ein großen schalck hats Interim,
es hat der Teufel selbst erdacht,
gen Auspurgk auf den Reichstag bracht.
Rath zu, wer wirdt der vater sein,
der zeuget hat das kindclein?
der teufel hat es selbst gethan,
bedrübt damit manch Christenman.
Ist kommen aus dem welschen Land,
sein Mutter allen wol bekannt:
der Babst ist nun zur Huren worden,
hat das Interim selbst geboren.
(es folgen noch 8 Strophen)
F. M. Böhme, Altdeutsches Liederbuchzu VIII:
Text und Melodie von Hans Leo Haßler (1564-1612)zu IX:
Ob Isaak die Singweise erfunden, läßt sich nur vermuten, aber nicht nachweisen; mit größter Wahrscheinlichkeit ist sie Volksweise gewesen, wie der Text ein Lied süddeutscher Handwerksgesellen war. Nach einer nicht verbürgten Überlieferung soll der Dichter des Liedes Kaiser Maximilian I. selbst sein, was bei der näheren Beziehung des Komponisten zum Kaiser nicht unwahrscheinlich wäre.
Das Volkslied mit seiner Melodie, die Isaak 1475 vierstimmig bearbeitete, muß mindestens aus dem 15. Jahrhundert stammen, war lange vor der Reformation beliebt, daß seine Weise schon vor 1505 zu einem geistlichen Liede benutzt wurde.
F. M. Böhme, Altdeutsches Liederbuchzu X:
Melodie in den Souterliedekens 1540 »Sorghe, ghi moet bisiden stan«.
F. M. Böhme, Altdeutsches Liederbuchzu XI:
Die Melodie steht am Paderborner Gesangbuch 1617 »Ein gar andächtig Gesang von dem Tode« und ist identisch mit dem Pavierlied (1525), darin der König von Frankreich als total geschlagen besungen wird (als Pavierton, in alten Drucken auc.li als »Thon vorn König von Frankreich« bezeichnet). Es ist das einst so beliebte Lied von der Pavierschlacht, in dessen Weise im 16. und 17. Jahrhundert eine große Zahl von historischen Liedern gesungen wird.Was wölln wir aber heben an
ein newes lied zu singen,
wol von dem könig aus Frankreich,
Mailand wolt er bezwingen.
Das gschach man zelt tausend-fünf-hundert jar,
im fünf und zwanzigsten ists geschehen,
er zog daher mit heereskraft
hat mancher landsknecht gsehen.
Er zug für ein stat die heist Mailand
die selbig tet er zwingen,
darnach Tür ein stat die heist Pavia,
er meint, er wolts gewinnen.
Darin lag mancher landsknecht frisch,
des het der könig verschworen,
er sprach, sie solten die stat aufgeben
sie wär sunst schon verloren.
(es folgen noch 20 Strophen)
F. M. Böhme, Altdeutsches Liederbuchzu XII:
Dieses geistliche Lied mit seiner Melodie, die mit der Jahrzahl 1430 überschrieben ist, steht unter den Gedichten des Heinrich von Loufenberg in der Straßburger Handschrift. Wahrscheinlich liegt dem Text und der Melodie ein weltliches Lied zugrunde.
F. M. Böhme, Altdeutsches LiederbuchTextnachweise Kommentar
Carl Orff [Vorwort], in: Carl Orff (Hg.): Cantus-Firmus-Sätze I, Partitur, Mainz 1932, S. 2.
N. N.: Anmerkungen, in: Ebd., o. S.
-
Sieben Chorsätze a cappella
Textdichter/-vorlage: Catull
Besetzung: gemischter Chor (SMezATBarB)
Sprache: lateinisch
Entstehungszeit: 1930
Publikationsjahr: 1931
Werkteile / Gliederung
Odi et amo
Vivamus, mea Lesbia
Lugete o Veneres
Ille mi par esse deo videtur
Ammiana
Miser Catulle
Nulla potest mulier
Kommentar
August 1930. Nach fast sechs Jahren ununterbrochener Arbeit am Schulwerk, an der Entwicklung einer neuen, elementaren Musikerziehung, war der Zeitpunkt für eine Veröffentlichung des bisher Fertiggestellten und Erreichten gekommen.
Davor wollte ich eine Atempause, eine größere Zäsur, einlegen und eine längst geplante Reise nach Italien unternehmen. Das Land zu erleben, mit dem ich mich in meiner Arbeit schon immer verbunden fühlte, war für mich ein Ereignis. Nach erholsamen Wochen am Gardasee besuchte ich als Abschluß noch das vielgerühmte Sirmione, die Halbinsel am Südende des Sees mit den »Grotten des Catull«, die in Wirklichkeit imposante Ruinen einer großzügigen Badeanlage aus spätrömischer Zeit sind.
Ich war so entspannt, ausgeruht und aufnahmebereit, daß es nur eines Anstoßes bedurfte, um Neues in mir aufbrechen zu lassen. Am letzten Abend vor meiner Heimkehr besorgte ich mir noch Karten vom See, von Sirmione und der Halbinsel, wobei mir eine durch ihre südländische Buntheit besonders auffiel: »Grotte di Catullo, tramonto sul lago di Garda«.
Darunter stand Catulls berühmtes Distichon:
Odi et amo. quare id faciam, fortasse requiris. nescio, sed fieri sentio et excrucior.
Diese Zeilen, kurz und wie gemeißelt, faszinierten mich, sie waren für mich Musik. Ein Funke sprang über und hatte gezündet.
Auf der Heimfahrt am nächsten Tage skizzierte ich den Chor, der sich mir aufdrängte und der in seiner Endfassung nicht viel von dem ersten Entwurf abweicht. Zuhause angekommen, verschaffte ich mir gleich Catulls Gedichte. Der kleine Band war für mich eine Fundgrube. Die Gedichte sprangen mich an wie vorgeformte Musik. So entstand ein erster Zyklus:
Catulli Carmina I
Sieben Chorsätze a cappella
Odi et amo
Vivamus, mea Lesbia
Lugete, o Veneres
Ille mi par esse deo videtur
Ammiana
Miser Catulle
Nulla potest mulierIch hatte die Sätze »con entusiasmo« entworfen und in kürzester Zeit niedergeschrieben.
Nahezu alle Gedichte Catulls sind Spiegelungen eigener Erlebnisse. Sein entscheidendes war die Liebe zu einer ebenso berühmten wie berüchtigten Dame der großen Welt, Clodia Pulcher, die er in seinen Dichtungen Lesbia nannte.
[…]
Das Catullfieber ließ mich nicht mehr los und ich stellte einen zweiten Zyklus zusammen, Chöre, die weiträumig und größer konzipiert waren.
Catulli Carmina II
Drei Chorsätze a cappella
Iam ver egelidos
Multas per gentes
Paene insularum SirmioAuch diese drei Gedichte sind aus Catulls Biographie zu verstehen:
»Iam ver egelidos«
Aufbruch zu einer Reise nach Kleinasien,»Multas per gentes«
Auf der Reise nach Kleinasien am Grabe des geliebten Bruders,»Paene insularum Sirmio«
Glückliche Heimkehr an den Lacus Benacus und ins heimatliche Sirmio, wo er seine Jugend verbrachte.Weder für den ersten noch für den zweiten Catullzyklus konnte ich prominente Chorleiter interessieren, sie fanden zu den Stücken keinen Zugang. So kam es nur zu einigen unbedeutenden Aufführungen, die meinen Intentionen keineswegs entsprachen.
Das Entscheidende aber war, daß in den Chören um Lesbia ein anderes, für mich viel wichtigeres Werk in nuce schon enthalten war: »Catulli Carmina, ludi scaenici«.
Aus dem dritten Chorsatz der Catulli Carmina I (»Lugete o Veneres«) ist der durchgehende Ostinato in Trionfo di Afrodite (»flere desine, non tibi Aurunculeia«, S. 161) eingegangen.
Außerdem erlebte der dritte Chorsatz aus Catulli Carmina II »Sirmio« eine beziehungsvolle Großformung als Finale des ersten Teils der Bernauerin (Bd. VI).
Textnachweis Kommentar:
Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. IV: Trionfi. Carmina Burana – Catulli Carmina – Trionfo di Afrodote, Tutzing 1979, S. 7-27.
-
Drei Chorsätze a cappella
Textdichter/-vorlage: Catull
Besetzung: gemischter Chor (SMezATBarB)
Sprache: lateinisch
Entstehungszeit: 1931
Publikationsjahr: 1932
Werkteile / Gliederung
Jam ver egelidos
Multas per gentes
Sirmio
Kommentar
August 1930. Nach fast sechs Jahren ununterbrochener Arbeit am Schulwerk, an der Entwicklung einer neuen, elementaren Musikerziehung, war der Zeitpunkt für eine Veröffentlichung des bisher Fertiggestellten und Erreichten gekommen.
Davor wollte ich eine Atempause, eine größere Zäsur, einlegen und eine längst geplante Reise nach Italien unternehmen. Das Land zu erleben, mit dem ich mich in meiner Arbeit schon immer verbunden fühlte, war für mich ein Ereignis. Nach erholsamen Wochen am Gardasee besuchte ich als Abschluß noch das vielgerühmte Sirmione, die Halbinsel am Südende des Sees mit den »Grotten des Catull«, die in Wirklichkeit imposante Ruinen einer großzügigen Badeanlage aus spätrömischer Zeit sind.
Ich war so entspannt, ausgeruht und aufnahmebereit, daß es nur eines Anstoßes bedurfte, um Neues in mir aufbrechen zu lassen. Am letzten Abend vor meiner Heimkehr besorgte ich mir noch Karten vom See, von Sirmione und der Halbinsel, wobei mir eine durch ihre südländische Buntheit besonders auffiel: »Grotte di Catullo, tramonto sul lago di Garda«.
Darunter stand Catulls berühmtes Distichon:
Odi et amo. quare id faciam, fortasse requiris. nescio, sed fieri sentio et excrucior.
Diese Zeilen, kurz und wie gemeißelt, faszinierten mich, sie waren für mich Musik. Ein Funke sprang über und hatte gezündet.
Auf der Heimfahrt am nächsten Tage skizzierte ich den Chor, der sich mir aufdrängte und der in seiner Endfassung nicht viel von dem ersten Entwurf abweicht. Zuhause angekommen, verschaffte ich mir gleich Catulls Gedichte. Der kleine Band war für mich eine Fundgrube. Die Gedichte sprangen mich an wie vorgeformte Musik. So entstand ein erster Zyklus:
Catulli Carmina I
Sieben Chorsätze a cappella
Odi et amo
Vivamus, mea Lesbia
Lugete, o Veneres
Ille mi par esse deo videtur
Ammiana
Miser Catulle
Nulla potest mulierIch hatte die Sätze »con entusiasmo« entworfen und in kürzester Zeit niedergeschrieben.
Nahezu alle Gedichte Catulls sind Spiegelungen eigener Erlebnisse. Sein entscheidendes war die Liebe zu einer ebenso berühmten wie berüchtigten Dame der großen Welt, Clodia Pulcher, die er in seinen Dichtungen Lesbia nannte.
[…]
Das Catullfieber ließ mich nicht mehr los und ich stellte einen zweiten Zyklus zusammen, Chöre, die weiträumig und größer konzipiert waren.
Catulli Carmina II
Drei Chorsätze a cappella
Iam ver egelidos
Multas per gentes
Paene insularum SirmioAuch diese drei Gedichte sind aus Catulls Biographie zu verstehen:
»Iam ver egelidos«
Aufbruch zu einer Reise nach Kleinasien,»Multas per gentes«
Auf der Reise nach Kleinasien am Grabe des geliebten Bruders,»Paene insularum Sirmio«
Glückliche Heimkehr an den Lacus Benacus und ins heimatliche Sirmio, wo er seine Jugend verbrachte.Weder für den ersten noch für den zweiten Catullzyklus konnte ich prominente Chorleiter interessieren, sie fanden zu den Stücken keinen Zugang. So kam es nur zu einigen unbedeutenden Aufführungen, die meinen Intentionen keineswegs entsprachen.
Das Entscheidende aber war, daß in den Chören um Lesbia ein anderes, für mich viel wichtigeres Werk in nuce schon enthalten war: »Catulli Carmina, ludi scaenici«.
Aus dem dritten Chorsatz der Catulli Carmina I (»Lugete o Veneres«) ist der durchgehende Ostinato in Trionfo di Afrodite (»flere desine, non tibi Aurunculeia«, S. 161) eingegangen.
Außerdem erlebte der dritte Chorsatz aus Catulli Carmina II »Sirmio« eine beziehungsvolle Großformung als Finale des ersten Teils der Bernauerin (Bd. VI).
Textnachweis Kommentar:
Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. IV: Trionfi. Carmina Burana – Catulli Carmina – Trionfo di Afrodote, Tutzing 1979, S. 7-27.
-
Op. 18, No. 1
Textdichter/-vorlage: Börries von Münchhausen
Besetzung: Singstimme, Piano
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1912
Publikationsjahr: 1912 (Ernst Germann & Co., München/Leipzig)
Diese Edition ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Kommentar
Vier Gedichte von Börries von Münchhausen für Singstimme und Orchester, op. 18: Der Tod und die Liebe wurde „leider“ (Orff) in Klavierfassung gedruckt. Die übrigen: Lebensbüßer, Dein Amt, Lebensweg, von Orff als mißglückt bezeichnet, sind nicht mehr vorhanden. Ebenso existieren von Münchhausens Ballade Die Glocke zu Hadamar, als Melodram mit Orchester entworfen, keine Aufzeichnungen mehr.
Textnachweis Kommentar:
Siehe Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 96.
-
Ein Sang vom Chiemsee
aus dem Hochlandsliedern von Karl Stieler
für eine mittlere Singstimme mit Begleitung des Pianoforte
Op. 12Textdichter/-vorlage: Karl Stieler
Besetzung: Singstimme, Piano
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1911
Erste Aufführung: um 1912, München (halböffentl. im Familien- und Freundeskreis Orffs)
Publikationsjahr: 1912 (Ernst Germann & Co., München/Leipzig)
Diese Edition ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Werkteile / Gliederung
Eliland
Stilles Leid
Frauenwörth
Rosenzweige
Heimliche Grüße
Wanderträume
Am Strande
Kinderstimmen
Mondnacht
Anathema
Ergebung
Kommentar
Eliand, ein Sang vom Chiemsee aus den »Hochlandliedern« von Karl Stieler, op. 12, erinnert in der Einheitlichkeit der Texte und der Ungebrochenheit des Angehens – das Manuskript zeigt keinerlei Korrekturen! – an den Zyklus der Uhlandschen Frühlingslieder. Die Gedichtfolge erzählt von der Liebe Elilands, des Mönchs, zur Nonne Irmingard:
Stilles Leid
Frauenwörth
Rosenzweige
Heimliche Grüße
Am Strande
Kinderstimmen
Mondnacht
Wanderträume
Anathema
Ergebung.Die zehn Lieder, von einem Vor- und Nachspiel für Klavier umrahmt, sind innerhalb weniger Tage Ende September 1911 entstanden und 1912 bei Ernst Germann, einem Nachfolger des Münchener Musikverlages Joseph Aibl, als erstes Werk Orffs im Druck erschienen.
Die Gedichte, 1879 veröffentlicht und von den Zeitgenossen offenbar über Jahrzehnte hin bewundert und geliebt, sind keineswegs von hohem Rang. Der junge Musiker scheint aber den atmosphärisch eigenen Ton des Dichters gespürt zu haben. Man würde dieser Landschaftskunst des Voralpenraumes mit seiner unverwechselbaren geographischen und geschichtlichen Prägung nicht gerecht, wenn man darin nur die Idyllik eines Provinzbilderbuches sehen wollte. Sie steht, freilich epigonal, in der Tradition der großen malerischen und dichterischen Landschaftskunst des frühen 19. Jahrhunderts. Der Vater Josef (1842–1885) des in München geborenen Dichters Karl Stieler hatte als bayerischer Hofmaler die berühmte Schönheitsgalerie für Ludwig I. geschaffen. Sie hat bei der Wortkunst des Sohnes wohl ebenso Patenschaft geleistet wie die Sonntagslandschaften bayerischer Seen von Wilhelm von Kobell.
Auch in Orffs Vertonung der Stielerschen Gedichte spielt die heimische Landschaft heimlich mit. Man kann Orffs Stil nicht deutlicher beleuchten als da, wo andere die gleichen Texte komponiert haben.
1902 hatte Alexander von Fielitz (1860–1930) den Eliland‑Zyklus vertont (erschienen in der Universal‑Edition). Die Lieder sind gekonnt, einheitlich, auf den Hörer gezielt, glatt, stimmungshaft, konventionell. Orffs Zyklus ist spontan voller Spannungen, vor sich hin gesungen, kantig, expressiv, unkonventionell. Es ist erlebte Musik; nichts von lieblicher oder tragikverzierter Genrekunst. Der junge Orff, ungebremst engagiert, überfährt die Texte in einem großatmigen Rezitativstil. Sein leidenschaftliches Dreinfahren weiß wenig oder nichts von den Regeln der Satzkunst und setzt sich über die musikalische Orthographie rücksichtslos hinweg. Verwegene Notationen werden riskiert. Die gewählte Tonart wird mitten in einer Phrase nach Maßgabe des gewollten Ausdrucks unbefangen durch eine andere abgelöst. Nur drei von den zehn Liedern schließen in der Tonart des Anfangs.
Orff vertont nicht eigentlich den Text, sondern läßt den Sänger rezitieren und musiziert auf große Strecken über den Text hinweg. Er setzt den Eindruck, den der Text auf ihn macht, in kurzen, wechselnden Phasen in ausdrucksgeladene, bisweilen überfrachtete Klänge um und sucht den Hörer in diese subjektive »Kommentierung« einzubeziehen. Aufwühlender Impetus und kontemplative Lyrismen wechseln so in harter Fügung miteinander. Diese Art des Musizierens verliert ihren Sinn, wenn das Wort fehlt. So bleibt es im Vor- und Nachspiel des Klaviers bei unverbindlichen Bruchstücken von Impressionen. Orff hält diesen auf den Rat von Freunden hinzukomponierten Rahmen stilistisch für verfehlt. Man kann ihm nur zustimmen.
Textnachweis Kommentar:
Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 83 f.
-
Kantate Nr. 3
nach Texten von Franz Werfel
Textdichter/-vorlage: Franz Werfel
Besetzung: gemischter Chor (SAATBB), 2 Klaviere
Sprache: deutsch, englisch
Entstehungszeit: 1930, revidiert 1968
Aufführungsdauer: 4′
Fremde sind wir ist Teil der Kantaten nach Texten von Franz Werfel
Aufführungsmaterial Schott Music
Werkteile / Gliederung
Aufruf »Komm, Sintflut der Seele«
Fremde sind wir »Tötet euch«
Hymnus »Wir beten«
Die Chorsätze sind auch einzeln aufführbar.
Kommentar
Die 1929/30 entstandenen drei Werfel-Kantaten erschienen 1931 (I/II), 1932 (III) zum ersten Mal im Druck. Sie waren unter dem Titel »Werkbuch I« zusammengefaßt.
Jeweils drei Gedichte sind zu einer Kantate vereinigt. Einer der Einzeltitel bildet zugleich den Gesamttitel und zeigt damit die gedankliche Leitlinie an.
[…]
Die Neufassungen der »Lieder und Gesänge« in den Kantaten stellen nicht etwa bloße klangliche Erweiterungen durch Übergang von der Solostimme zum Chor, vom Klavier zum Instrumentalensemble dar; erst recht nicht Instrumentierungen des Klaviersatzes. Es handelt sich vielmehr um Neuerfindungen in einer gewandelten Klangvorstellung. Zur Veranschaulichung können die Neudrucke der Kantaten und Chorsätze von 1968 und später herangezogen werden (Verlag Schott).
Der Kompositionsstil ist bestimmt durch die Klangpalette eines Instrumentariums, das die Zusammensetzung des spätromantischen Orchesters völlig aufgegeben hat. Zum ersten Mal wird ein Klangkörper zusammengestellt, der eine längere Arbeit mit dem Schulwerk und die dort entwickelten Instrumente zur Voraussetzung hat. Freilich waren viele Schlaginstrumente aus Fremdkulturen als Effektinstrumente im europäischen Orchester längst eingeführt worden. Die Neuartigkeit des Orff‑Stils aber liegt darin, daß das Schlagwerk autonom eingesetzt wird. Es entsteht ein fundamental neues, im wörtlichen Sinn unerhörtes Klangspektrum.
Vor allem durch die Stabspiele werden neue Klangbereiche erschlossen. Nach indonesischen und afrikanischen Vorbildern werden Xylophone in allen Größen entwickelt, zuletzt auch in der Baßlage. Die individuellen klanglichen Möglichkeiten von Fell, Holz und Metall, aber auch anderer Idiophone aller Art werden bis in die feinsten Differenzierungen ausgehört. Sie ergeben eine unendliche Vielfalt neuartiger Klangfarben.
Grad und Eigenart der Innovation verdeutlichen sich aber auch an dem Einsatz des Klaviers. Die drei Klaviere der Kantaten sind in ihrer Funktion nicht mehr identisch mit dem Klavier der Liedfassungen. Das Klavier stand dort, ungeachtet der fortschreitenden Zurücknahme spezifisch pianistischer Aufgaben und ihrer technischen Ausführbarkeit, immer noch innerhalb einer Liedstruktur in der Nachfolge des Begleitinstruments, das die Solostimme partnerschaftlich ergänzt.
In den Kantaten sind die Klaviere in ein Schlagwerkensemble integriert. Sie fungieren teils als Perkussionsinstrumente, teils als Träger eines nicht mehr harmonischen, sondern klangtektonischen Fundaments.
Der Stilwandel in den Kantaten betrifft demnach den instrumentalen Aspekt der Komposition, somit aber auch die Komposition als Ganzes. Er hat eine veränderte Gewichtung und »Wertigkeit« der chorisch geführten Singstimme im Gesamtgefüge des Klangsatzes zur Folge.
Textnachweis Kommentar:
Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 187-189.
-
für eine Singstimme und Klavier
Textdichter/-vorlage: diverse
Besetzung: Singstimme und Klavier
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1911, 1919–1921
Aufführungsmaterial Schott Music
Inhalt
I Schlaflied für Mirjam op. 6/2, 1911 (Richard Beer-Hofmann)
II Immer leiser wird mein Schlummer op. 8/2, 1911 (Hermann Lingg)
III Bitte, 1919 (Nikolaus Lenau)
IV Mein Herz ist wie ein See so weit, 1919 (Friedrich Nietzsche)
V Zwiegespräch, 1919 (Klabund)
VI Blond ist mein Haar, 1919 (Klabund)
VII Herr, ich liebte, 1919 (Klabund)
VIII Als ich dein Wandeln an den Tod verzückte, 1920 (Franz Werfel)
IX Rache, 1920 (Franz Werfel)
X Ein Liebeslied, 1920 (Franz Werfel)
XI Mondlied eines Mädchens, 1920 (Franz Werfel)
XII Litanei eines Kranken, 1921 (Franz Werfel)
XIII Nacht, 1920 (Franz Werfel)
XIV Der gute Mensch, 1920 (Franz Werfel)Kommentar
Der erste Band der Orff-Dokumentation hat den Blick auf die bis dahin fast unbekannten Frühwerke Orffs gelenkt.* Ihre teilweise Publikation veranschaulichte die Darstellung der Anfänge und Stilgrundlagen seines Schaffens. Erst aus der mit dem Abschluß der Dokumentation gewonnenen Gesamtsicht, vor allem aus der Retrospektive des Spätwerkes, wurde deutlich, wie früh und entschieden die Kennmale des Orff-Stils hervortreten. Sie sichern bereits den ersten Kompositionen selbständigen Rang.
Orff hat mit klavierbegleiteten Liedern begonnen. Sie in die Nachfolge des spätromantischen Klavierliedes zu stellen, erweist sich als unzutreffend.
Das im Juni 1911 entstandene Schlaflied für Mirjam (Text von Richard Beer-Hofmann, 1898) – erste Begegnung des fast Sechzehnjährigen mit einem für die Gefühlslage des fin de siècle repräsentativen Gedicht eines zeitgenössischen Autors – ist typisch für Orffs Grundzug, die Faszination der Sprache als Musik darzustellen. In dem expressiven Melos des Sprechgesanges tritt der Charakter des schlafrufenden Ansingens unter weitgehender Aussparung einer Klavierbegleitung sinnfällig hervor. Nur phasenweise skizziert das Instrument fast beiläufig, wie angerissen, eine sicilianoartig wiegende Grundfigur.
In dem nur wenig älteren Lied Immer leiser wird mein Schlummer (Text von Hermann Lingg) tritt ein zweiter Grundzug Orffs bestimmend hervor: der primäre Klang wird als Ausdrucksmittel erprobt. Die Unbekümmertheit gegenüber der überlieferten harmonischen Logik deutet auf improvisatorische Erfindung am Klavier, eine dritte Eigenart Orffschen Musizierens. Sie weist aber auch voraus auf die für den späteren Orff charakteristischen, zum Ostinato tendierenden Pendel- und Schwebeklänge ohne Auflösung, die farblich wechselnde Klangflächen ausbilden, aus denen sich die Singstimme herauslöst. Die zweite Gruppe von Liedern aus dem Jahre 1919 schließt, ungeachtet des zeitlichen Zwischenraumes mit vielen anderen Wegen und Umwegen, die Orff abgeschritten hat, bruchlos an die Frühphase an. Lenaus Bitte, ein ekstatischer Anruf an die zu personaler Mächtigkeit erhöhte Nacht, hat Orff als Liebeslied verstanden. So erscheint Nietzsches Mein Herz ist wie ein See so weit in hymnischer Diktion als »Schwesterstück«.
In diesen beiden Liedern tritt eine weitere Eigenart Orffs hervor. Melos und Klang werden neu aufeinander bezogen. Das Melos wird gleichsam harmonisch aufgeladen, indem unter jeden Ton ein Farbklang punktuell aufgehängt wird. So entsteht ein irreguläres Farbgitter, das akkordische Einzelreflexe aneinanderreiht und nur an den Wendemarken auf Tonalität hinzielt. Die scheinbare Begleitung ist demnach klanglich projiziertes Melos.
Gegenüber der verhaltenen Glut des Lenau-Liedes zeigt der Durchbruch des Kantablen in dem Nietzsche-Lied den Glanz der »italianità«, der auch in Orffs späterem Schaffen immer wieder aufleuchtet. Nach der schweifenden Überraschungsharmonik in der Begleitung wirkt die abschließende harmonische Kadenz, die den hymnischen Schwung in gesammelte Stille münden läßt, fremdartig und wie zum ersten Mal gehört.
Die Wendung zu einem neuen Dichter bringt für Orff immer auch eine stilistische Öffnung oder Wandlung mit sich. Das Zwiegespräch nach Klabund ist das Signal dafür. Es hat für Orff persönlich die Bedeutung einer Metapher: Dank und Abschied von dem Meister dieser Epoche, Richard Strauss. In den beiden folgenden Liedern nach Klabund Blond ist mein Haar und Herr ich liebte vollzieht sich der mächtige Um- und Durchbruch zu der für den Orff-Stil typischen Klangarchitektonik. Girlanden gleich werden die Worte herausgeschleudert und suchen sich gleichsam selbst ihren Tonort. Diatonik wird vorherrschend. Eine Begleitung im üblichen Sinn gibt es nicht mehr. Pfeilerartige Stützklänge schaffen einen Klangraum, der in schreitenden Gängen, schwingenden Klanggesten oder organalartigen Mixturketten ausgemessen wird. Singen wird zu ekstatischem Strömen, das in keinen Takt mehr einzubinden ist.
Der al fresco-Stil dieser Lieder spiegelt unmittelbar die rhapsodische Vision, die nicht mehr an der realen Ausführbarkeit orientiert ist. Die Stimmlagen sind nirgends festgelegt. Im Klangsatz der Klaviere können sich gegebenenfalls zwei Spieler vierhändig arrangieren, um dem primären Improvisationscharakter voll gerecht zu werden. Wenn Orff selbst bei früheren Aufführungen dieser Lieder mit vierhändigem Arrangement der Begleitung als Primo-Spieler den notierten Satz improvisierend ergänzt hat, dann bezeichnet das jenen Punkt, wo der Charakter des in der Aufzeichnung festgelegten Werkes überschritten wird. Die Notierung stellt nur die »res facta« dar. Sie ist die Vorlage für den spontanen Prozeß des Musizierens.
Die Konsequenzen aus der Eigenart der erreichten Stilstufe zeichnen sich ab in den Liedern nach Gedichten von Franz Werfel. Die Liedstruktur ist für den neuen Ausdruckswillen zu eng geworden. Das Lied drängt zur Kantate, der ausgebaute Klangsatz zur Ausführung durch das Orchester. So sind zwei der fünf Werfel-Lieder aus der ersten Hälfte des Jahres 1920 in die Großform der Chorkantaten der dreißiger Jahre übergegangen: Ein Liebeslied als a cappella-Satz, Der gute Mensch für Doppelchor über einem vielfarbig instrumentierten Perkussionsklangfeld. Das der Dichtung Werfels eigene hymnische Ansingen eines Gegenüber, der rhapsodische Schwung seiner Wortgesten und Metaphern, das O Mensch-Pathos glühender Empfindung kam dem Ausdruckswillen Orffs in der damaligen Phase seiner Stilfindung besonders entgegen. Es ist bezeichnend für seine überschäumende Expressivität, daß er in der Kantatenfassung von Der gute Mensch diesen Titel des Gedichts nicht nur als Rahmen mitkomponiert hat, sondern ihn auch als fanfarenartige Devise nach jeder Gedichtzeile vom ersten Chor in den Textvortrag des zweiten Chores hineinrufen läßt.
Der Vorblick auf die Kantaten weist dem Sänger und dem Pianisten die Richtung für einen angemessenen Vortrag der Lieder. Es dürfte von besonderem Reiz sein, die Sprengkraft der in einer Grenzposition angesiedelten Stücke in der Wiedergabe spürbar zu machen, zudem sie in ihrer Physiognomie stark unterschiedlich und individuell geprägt sind. Während die beiden Sonette Als mich dein Wandeln an den Tod verzückte und Rache als hymnische Exklamationen gestaltet sind, stellen Ein Liebeslied und Mondlied eines Mädchens meditative Monologe in freier Linearität der Sprachführung und modaler Färbung der Melodik dar, das erste ein in sich kreisendes Klangmobile, das zweite eine schwebende Klangform von gläserner Transparenz, in psalmodierendem Rezitationston über einem passacagliaartigen Gerüst auf Orffs spätere »Lamenti« vorausweisend. Der gute Mensch, einst zu Werfels berühmtesten Gedichten zählend, ist das Muster einer vertikal gegliederten, spiegelbildartig gebauten Pfeilerarchitektur. Das Klavier spielt die Singstimme von Ton zu Ton mit; die Komposition ist somit schon als instrumentale Struktur komplett. Auch hier ist der Pianist gehalten, sich die Spannungen der Spiegelklänge nach eigener Einsicht zurechtzulegen.
Die frühen Lieder sind nicht nur Dokumente des sich entfaltenden Personalstils Orffs; nicht nur Zeugnisse einer von Jugendstil und Art nouveau beherrschten Epoche; sie sind weit darüber hinaus originäre und singuläre Musizierformen ohne Vergleich: rhapsodische Eruptionen eines jeweils improvisatorisch inspirierten Augenblicks. Von melischer Kantabilität wie von textgezeugter Expressivität geprägt können sie in konzertanter Wiedergabe den legitimen Anspruch auf »effetto« bei Ausführenden und Zuhörern stellen – Grund genug, um sie dem Sänger und dem Pianisten zu einer ungewöhnlichen Erweiterung ihres Repertoires zugänglich zu machen.
* Vgl. Carl Orff und sein Werk, Dokumentation Bd. I, Hans Schneider, Tutzing 1975, wo das frühe Schaffen ausführlich dargestellt ist.
Textnachweis Kommentar:
Werner Thomas »Einführung«, in: Carl Orff: Frühe Lieder für eine Singstimme und Klavier, Partitur ED 7024, Mainz 1982, S. 4 f.
-
Kantate Nr. 2
für gemischten Chor 3 Klaviere und Schlaginstrumente
Textdichter/-vorlage: Franz Werfel
Besetzung: gemischter Chor (SATB/SATB), 3 (2) Klaviere und Schlagzeug (6 Spieler)
Sprache: deutsch, englisch
Entstehungszeit: 1930, revidiert 1968
Uraufführung: 11. Oktober 1930 München (D)
Aufführungsdauer: 11′
Der gute Mensch ist Teil der Kantaten nach Texten von Franz Werfel
Besetzung detailliert
Sänger: Chor (SATB/SATB)
Instrumente: 3 Klaviere (ossia 2 Klaviere), 2 Pauken
Schlagwerk: 4 kleine Pauken oder Tomtoms · Tamburin · große Trommel · 2 Triangel · 3 hängende Becken · Beckenpaar · Gong · Glockenspiel · Bassxylophon (6 Spieler)
Aufführungsmaterial Schott Music
Werkteile / Gliederung
Lächeln, Atmen, Schreiten »Schöpfe du, trage du«
Liebeslied »Alles was von uns kommt«
Der gute Mensch »Sein ist die Kraft«
Die Chorsätze sind auch einzeln aufführbar.
Kommentar
Die 1929/30 entstandenen drei Werfel-Kantaten erschienen 1931 (I/II), 1932 (III) zum ersten Mal im Druck. Sie waren unter dem Titel »Werkbuch I« zusammengefaßt.
Jeweils drei Gedichte sind zu einer Kantate vereinigt. Einer der Einzeltitel bildet zugleich den Gesamttitel und zeigt damit die gedankliche Leitlinie an.
[…]
Die Neufassungen der »Lieder und Gesänge« in den Kantaten stellen nicht etwa bloße klangliche Erweiterungen durch Übergang von der Solostimme zum Chor, vom Klavier zum Instrumentalensemble dar; erst recht nicht Instrumentierungen des Klaviersatzes. Es handelt sich vielmehr um Neuerfindungen in einer gewandelten Klangvorstellung. Zur Veranschaulichung können die Neudrucke der Kantaten und Chorsätze von 1968 und später herangezogen werden (Verlag Schott).
Der Kompositionsstil ist bestimmt durch die Klangpalette eines Instrumentariums, das die Zusammensetzung des spätromantischen Orchesters völlig aufgegeben hat. Zum ersten Mal wird ein Klangkörper zusammengestellt, der eine längere Arbeit mit dem Schulwerk und die dort entwickelten Instrumente zur Voraussetzung hat. Freilich waren viele Schlaginstrumente aus Fremdkulturen als Effektinstrumente im europäischen Orchester längst eingeführt worden. Die Neuartigkeit des Orff‑Stils aber liegt darin, daß das Schlagwerk autonom eingesetzt wird. Es entsteht ein fundamental neues, im wörtlichen Sinn unerhörtes Klangspektrum.
Vor allem durch die Stabspiele werden neue Klangbereiche erschlossen. Nach indonesischen und afrikanischen Vorbildern werden Xylophone in allen Größen entwickelt, zuletzt auch in der Baßlage. Die individuellen klanglichen Möglichkeiten von Fell, Holz und Metall, aber auch anderer Idiophone aller Art werden bis in die feinsten Differenzierungen ausgehört. Sie ergeben eine unendliche Vielfalt neuartiger Klangfarben.
Grad und Eigenart der Innovation verdeutlichen sich aber auch an dem Einsatz des Klaviers. Die drei Klaviere der Kantaten sind in ihrer Funktion nicht mehr identisch mit dem Klavier der Liedfassungen. Das Klavier stand dort, ungeachtet der fortschreitenden Zurücknahme spezifisch pianistischer Aufgaben und ihrer technischen Ausführbarkeit, immer noch innerhalb einer Liedstruktur in der Nachfolge des Begleitinstruments, das die Solostimme partnerschaftlich ergänzt.
In den Kantaten sind die Klaviere in ein Schlagwerkensemble integriert. Sie fungieren teils als Perkussionsinstrumente, teils als Träger eines nicht mehr harmonischen, sondern klangtektonischen Fundaments.
Der Stilwandel in den Kantaten betrifft demnach den instrumentalen Aspekt der Komposition, somit aber auch die Komposition als Ganzes. Er hat eine veränderte Gewichtung und »Wertigkeit« der chorisch geführten Singstimme im Gesamtgefüge des Klangsatzes zur Folge.
Textnachweis Kommentar:
Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 187-189.
-
für eine hohe Singstimme und Klavier
Op. 15Textdichter/-vorlage: anonym
Besetzung: Singstimme, Piano
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1912
Publikationsjahr: 1912 (Ernst Germann & Co., München/Leipzig)
Diese Edition ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Kommentar
Bei Des Herzen Slüzzelin, Op. 15, vertonte Orff einen anonymen Text aus einer Tegernseer Handschrift des 12. Jahrhunderts.
Textnachweis Kommentar:
Siehe Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 95.
-
Concento di voci
II. Laudes creaturarum
quas fecit Beatus Franciscus ad Laudem et Honorem Dei
für achtstimmigen gemischten Chor a cappella
Textdichter: Franz von Assisi
Besetzung: gemischter Chor (SSSATTTB)
Sprache: altitalienisch
Entstehungszeit: 1954
Uraufführung: 21. Juli 1957 Solingen (D) · Dirigent: Hans Tilly · Pfarr-Cäcilienchor Solingen-Wald
Aufführungsdauer: 3′
Laudes Creaturarum ist Teil des Zyklus Concento di voci
Aufführungsmaterial Schott Music
Inhalt
Text:
Altissimu, onnipote bon Signore,
Tue so le laude la gloria e l’onore et onne benedictione.
Ad Te solo, Altissimo, se konfanno
et nullu homo ene dignu Te mentovare.
Lautadu si, mi Signore, cum tucte le Tue creature,
spetialmente messor lo frate sole,
lo quale lo iorno allumeni per nui;
et ellu è bellu e radiante cum grande splendore;
de Te, Altissimu, porta significatione.
Lautadu si, mi Signore, per sora luna e le stelle;
in celu l’ài formate clarite e pretiose e belle.
Laudatu si, mi Signore, per frate ventu
e per aere e nubilo e sereno e onne tempu
per le quale e le Tue creature dài sustentamentu.
Laudatu si, mi Signore, per sor aqua,
la quale è multo utile e humele e pretiosa e casta.
Laudatu si, mi Signore, per frate focu,
per lu quale n’allumeni la nocte;
e ellu è bellu e iocondu e robustosu e forte.
Laudatu si, mi Signore, per sora nostra matre terra,
la quale ne sustenta e governa
e produce diversi fructi e colorati flori e herba.
Laudatu si, mi Signore, per quilli ke perdonano per lo Tuo amore
e sostengo infirmitate e tribulatione:
Beati quilli ke le sosterano in pace,
ka da Te, Altissimu, sirano incoronati.
Laudatu si, mi Signore, per sora nostra morte corporale,
da la quale nullu homo vivente po skampare:
guai a quilli ke morrano in peccato mortale,
beati quilli ke se troverà ne le Tue sanctissime voluntati,
ka la morte secunda non li potera far male.
Laudate e benedicete lu mi Signore
e rengratiate e servite a Lui cum grande humilitate. Amen.***
Höchster allmächtiger, gütiger Herr:
Dein ist der Preis, die Herrlichkeit und die Ehre und jegliche Benedeiung:
Dir allein gebühren sie.
Und kein Mensch ist würdig, Dich zu nennen.
Gepriesen seist Du, Gott, mein Herr, mit allen Deinen Geschöpfen,
vornehmlich mit dem edlen Bruder Sonne:
Welcher den Tag wirkt und uns erquickt durch sein Licht:
Wie schön ist er und strahlt in gewaltigem Glanze.
Von dir das Sinnbild ist er, o Herr.
Gepriesen seist Du, mein Herr, um der Schwester willen,
der Göttin Mond und all der Sterne:
Am Himmel hast Du sie ausgehängt, klar und schön.
Gepriesen auch sei mein Herr um des Bruders Wind willen,
um der Luft und der Wolken willen, um des sanften,
des rauhen, um jeglichen Wetters willen:
denn mit ihnen allen hegst und nährst Du Deine Kinder.
Gepriesen auch seist Du, Herr, um der Schwestern willen,
der Quellen: die nützlich sind, fromm, köstlich und keusch.
Gepriesen, o Herr, seist Du um des Bruders willen,
des Feuers, das uns die Nacht erhellt:
Und er ist schön, freudig, der Bruder, stark und mächtig.
Gepriesen sei mein Herr um der Mutter willen, der Erde:
Die uns nährt, trägt und vielerlei Früchte erzeugt,
farbige Blumen und Kräuter.
Gepriesen, Herr, seist Du im Namen all derer, die Verzeihung
üben, aus Liebe zu Dir, Schwachheit erdulden und Trübsal:
Selig alle die, welche dulden in Frieden: denn sie werden
von Dir, o Höchster, gekrönt.
Gepriesen zuletzt sei er, mein Herr, um unserer Schwester
willen, der irdischen Vergängnis:
Denn ihr entrinnt Keiner von uns, der da lebt.
Wehe dem, der in Todessünden dahinfährt:
Selig aber, die ruhn in Deinem allerheiligsten Willen:
Ihnen kann der Tod des Todes kein Übel mehr tun.
Lobt, benedeit meinen Herrn, sagt ihm Dank:
Und dient Ihm in tiefer Demut. Amen.(Übertragung von Rudolf Bach, nach J. Fr. H. Schlosser, 1780-1851)
Kommentar
Das zweite Stück des Concento di Voci, 1954 hinzukomponiert, ist die Neufassung eines Chores aus dem V. Bande des Schulwerks: Laudes creaturarum, quas fecit Beatus Franciscus ad Laudem et Sonorem Dei (in der Ursprache) für achtstimmigen gemischten Chor. Uraufführung: Solingen 21. Juli 1957.
Es ist dies der berühmte Sonnengesang des Heiligen Franziskus. Die ganze Komposition verläuft in einem einzigen ungebrochenen Schwungbogen im Mixturstil auf Bordunfundament. Unauslöschlich der Eindruck in der Wiedergabe am Klavier durch Orff der diese Laudes wahrlich in dem geforderten Vortrage »Estatico, sempre molto rubato« erklingen läßt. Es sind Schwung wie Wiederholungstechnik des »Eis-aiona-Chores« der Catulli Carmina, welche hier ins Ekstatisch-Religiöse übersetzt sind. In der stets intensiv vorwärtsdrängenden Klangrezitation des führenden dreistimmigen Organumsatzes gibt es kein Innehalten; ein atemloses Lob Gottes, das musikalisch nur partiell und zur Gewinnung des machtvollen Schlusses auf die Eintonpsalmodie zurücksinkt. Der »molto-statico«-Schluß des Werkes »Laudate e benedicete lu mi Signore e rengratiate e servite a Lui« endet in zwei markanten Amen-Klangsäulen.
Textnachweise Inhalt/Kommentar:
Rudolf Bach [Text und Übertragung], in: Carl Orff (Hg.): Concento di voci. II. Laudes creaturarum (quas fecit Beatus Franciscus ad Laudem et Honorem Dei), Gemischter Chor (SSSATTTB) a cappella, Partitur C 39560, Mainz 1957, S. 3 f.
Andreas Liess: Orff. Idee und Werk, Zürich 1977, 2. Auflage, München 1984, S. 140 f.
-
Op. 17, No. 1
Textdichter/-vorlage: Martin Greif
Besetzung: Singstimme, Piano
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1912
Publikationsjahr: 1912 (Ernst Germann & Co., München/Leipzig)
Diese Edition ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Kommentar
Vier Lieder für Tenor, op. 17, vereinten eine lyrische Reflexion von Martin Greif Liebessorgen mit 3 Toskanischen Volksliedern (in der Übersetzung von Paul Heyse), […] eine Auftragsarbeit für einen Sänger. Orff versucht, mit pseudo‑folkloristischen Einfällen bewußt konventionell zu sein.
Nachweise
Textnachweis Kommentar: Siehe Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 96.
-
Op. 13, No. 3
Textdichter/-vorlage: Max Haushofer
Besetzung: Singstimme, Piano
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1911
Publikationsjahr: 1912 (Ernst Germann & Co., München/Leipzig)
Diese Edition ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Kommentar
Die Drei Lieder für eine mittlere Stimme und Klavier, Op. 13, entstanden, wie schon der Liedzyklus Eliland, im Jahr 1911. »Das dritte Lied, Märchen, op. 13,3 auf ein Gedicht von Max Haushofer, versucht die Larmoyanz des Textes durch eine musikalische Stimmungsmalerei aufzufangen.« (Thomas 1975).
Nachweise
Textnachweis Kommentar: Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 88.
-
für gemischten Chor und Instrumente
Textdichter/-vorlage: Friedrich von Schiller
Besetzung: gemischter Chor und Instrumente
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1956, rev. Neufassung 1981
Uraufführung: 4. Dezember 1956 Bremen (D) · Dirigent: Hellmut Schnackenburg · Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters Bremen · Philharmonischer Chor Bremen
Aufführungsdauer: 11′
Nänie und Dithyrambe ist Teil der Werkgruppe Dithyrambi
Besetzung detailliert
Sänger: gemischter Chor (SATB)
Instrumente: 6 Fl. – 3 Pos.
Schlagwerk: P. S. (Glsp. · Xyl. · Vibr. · Marimba · Zimb. · Beckenpaar · hg. Beck. · Tamt. · Tamb. · gr. Tr. · Kast. · Dobaci) (9 Spieler) – 2 Hfn. · 4 Klav. (8 Spieler)
Aufführungsmaterial Schott Music
Inhalt
Texte
Nänie
Auch das Schone muß, sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter.
Wann er, am skäischen Thor fallend, sein Schicksal erfüllt.Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus.
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu seyn im Mund der Geliebten ist herrlich.
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.Dithyrambe
Nimmer, das glaubt mir,
Erscheinen die Götter,
Nimmer allein.
Kaum daß ich Bacchus den lustigen habe,
Kommt auch schon Amor, der lächelnde Knabe,
Phöbus der herrliche findet sich ein.
Sie nahen, sie kommen,
Die Himmlischen alle,
Mit Göttern erfüllt sich
Die irdische Halle.Sagt, wie bewirth‘ ich,
Der Erdegeborne,
Himmlischen Chor?
Schenket mir euer unsterbliches Leben,
Götter! Was kann euch der Sterbliche geben?
Hebet zu eurem Olymp mich empor.
Die Freude, sie wohnt nur
In Jupiters Saale,
O füllet mit Nektar.
O reicht mir die Schaale!Reich ihm die Schaale!
Schenke dem Dichter,
Hebe, nur ein!
Netz ihm die Augen mit himmlischem Thaue,
Daß er den Styx, den verhaßten, nicht schaue,
Einer der Unsern sich dünke zu seyn!
Sie rauschet, sie perlet,
Die himmlische Quelle,
Der Busen wird ruhig,
Das Auge wird helle.(Friedrich Schiller)
Kommentar
Im Laufe seines Schaffens wandte sich Carl Orff mehr und mehr klassischen Stoffen und Formen zu. In der Mitte der 1950er Jahre, zwischen seinen Bühnenwerken Trionfo di Afrodite und Oedipus der Tyrann, komponierte er auch Chorwerke, die sich mit der Antike auseinandersetzen. Darunter finden sich die Hymne Der Sänger der Vorwelt, die strenge, sehnsuchtsfreie Totenklage Nänie und das orgiastische Gedicht Dithyrambe. Anfang der 1980er Jahre vereinte Orff sie zu einem Werk.
In seinen Dithyrambi geht Orff über den Klassizismus Friedrich Schillers hinaus. Während der Dichter seinen Blick auf das Erhabene und dessen Wirkung auf seine Innenwelt richtet, reanimiert der Komponist durch seine Satzweise das archaische Moment, den Ritus, den wollüstigen, erdverbundenen Rausch. Gleichzeitig stellt er die klassische Einheit von Musik, Gesang, Tanz, Sprache und Drama wieder her. Wie in den dionysischen Feiern der Antike fällt dem Vokalensemble dabei eine zentrale Rolle zu; übernimmt das Instrumentarium in erster Linie rhythmische Funktionen, so überformt der Chor den Text in einer eigenen musikalischen Schicht ins Hymnische.
Nachweise
Textnachweise Inhalt/Kommentar: N. N.: »Beschreibung«, in: Webseite Schott Music: Dithyrambi für gemischten Chor und Instrumente nach Texten von Friedrich Schiller, (abgerufen am 22.5.2018).
Friedrich Schiller: Die Sänger der Vorwelt/Nänie/Dithyrambe, in: Carl Orff (Hg.): Dithyrambi für gemischten Chor und Instrumente nach Texten von Friedrich Schiller, Partitur, Neufassung 1981, Mainz 1981, o. S.
-
»Sumer is icumen in« Sommerkanon (13. Jh.)
Textdichter/-vorlage: anonym
Besetzung: gemischter Chor (STBar) und Instrumente
Sprache: altenglisch
Entstehungszeit: 1972
Uraufführung: 26. August 1972 Olympiastadion München, Eröffnungsfeier der 20. Olympischen Spiele (Tonbandeinspielung) · Dirigent: Gerhard Schmidt-Gaden · Tölzer Knabenchor · Ein Instrumentalensemble
Aufführungsdauer: 4′
Besetzung detailliert
Chor: Knabenstimmen · STBar
Instrumentalensemble: 4 Trompeten (4 Sopranblockflöten) · 2 Posaunen (Gamben od. Bratschen) · Fagott ad lib. – 4 Pauken · Schlagwerk: große Trommel · Schellentrommel · Becken (Zimbeln) · Triangel · Glockenspiel (Sopran, Alt, mehrfach besetzt) (10 Spieler) – 2 Gitarren (mehrfach besetzt) – Violoncelli · Kontrabässe
Aufführungsmaterial Schott Music
Inhalt
Text:
Gekommen ist der Sommer,
es singt der Kuckuck laut;
die Saat geht auf, und die Wiese steht in Blüte,
Jetzt sprießt der Wald.
Singe, Kuckuck!
Das Mutterschaf blökt dem Lamme nach,
die Kuh ruft nach dem Kalb;
der junge Stier hüpft, der Rehbock springt –
sing fröhlich, Kuckuck!
Kuckuck, Kuckuck,
schön singst du Kuckuck,
nun hörst du nimmer auf!Sumer is icumen in,
Lhude sing Cucu;
Groweth sed and bloweth med
And springth the wude nu;
Sing Cucu.
Auwe bleteth after lomb,
Lhouth after calve cu;
Bulloc sterteth, bucke verteth;
Murie sing Cucu,
Cucu, Cucu,
Wel singes thu Cucu,
Ne swik thu naver nu.(Englisch, 13. Jh.)
Kommentar
Im Britischen Museum in London findet sich in einer Handschrift des späten 13. Jahrhunderts aus der englischen Abtei Reading der erste bekannte Kanon der europäischen Kunstmusik: der sogenannte »Sommerkanon«, dessen Verse den Einzug des Sommers begrüßen.
Eine beigefügte Notiz erklärt den kunstvollen Schichtenaufbau der Klangform: ein zweistimmiges Fundament von glockenartig schwingenden Pendelklängen trägt einen Oberbau von vier in gleichen Abständen nacheinander einsetzenden Stimmen.
Die Notiz nennt den Kanon »Rota«, Rad, was auf die drehende, kreisende Bewegung des stetig pulsierenden Klanges hinweist. Die Kreisform entspringt einem vitalen Urtrieb des Musizierens; sie verlangt nach tänzerischer Ausgestaltung.
Der Kanon ist aber durch das Zusammenwirken der streng geordneten Stimmeneinsätze auch eine gesellig gebundene Musizierform. Als »Gruß der Jugend« zu den Olympischen Spielen 1972 in München konnte Carl Orff daher keine gemäßere musikalische Form wählen als die mittelalterliche Rota. In der Verbindung der Singstimmen mit dem heute weltweit verbreiteten Orff-Instrumentarium erklingt ein Zeugnis europäischer Überlieferung als lebendige Gegenwart.
Nachweise
Textnachweis Kommentar: N. N. [Vorwort], in: Carl Orff: Rota – »Sumer is icumen in« – Sommerkanon (13. Jahrhundert), Partitur ED 6412, Mainz 1973, erneuerte Ausgabe, Mainz 2001, S. 5.
-
Elegische Hymne für Chor und Instrumente
Textdichter/-vorlage: Friedrich von Schiller
Besetzung: gemischter Chor und Instrumente
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1955, rev. Neufassung 1981
Uraufführung: 3. August 1956 Stuttgart (D) · 14. Deutsches Sängerbund-Fest 1956 · Dirigent: Heinz Mende · Mitglieder des Sinfonieorchesters des Süddeutschen Rundfunks · Philharmonischer Chor Stuttgart
Aufführungsdauer: 11′
Die Sänger der Vorwelt ist Teil der Werkgruppe Dithyrambi
Besetzung detailliert
Sänger: gemischter Chor (SMezATBarB)
Instrumente: 2 Hfn. · 2 Klav. – mehrere Kb.
Schlagwerk: P. S. (mehrere Glsp. · Xyl. · Marimba · 5 Zimb. · Trgl. · Beckenpaar · hg. Beck. · Tamb. · gr. Tr.) (8 Spieler)
Aufführungsmaterial Schott Music
Inhalt
Text
Sagt, wo sind die Vortrefflichen hin, wo find‘ ich die Sänger,
Die mit dem lebenden Wort horchende Völker entzückt,
Die vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen,
Und getragen den Geist hoch auf den Flügeln des Lieds?
Ach, noch leben die Sänger, nur fehlen die Thaten, die Lyra
Freudig zu wecken, es fehlt ach! ein empfangendes Ohr.
Glückliche Dichter der glücklichen Welt! Von Munde zu Munde
Flog, von Geschlecht tu Geschlecht euer empfundenes Wort.
Wie man die Götter empfängt, so begrüßte jeder mit Andacht,
Was der Genius ihm, redend und bildend erschuf.
An der Gluth des Gesangs entflammten des Hörers Gefühle,
An des Hörers Gefühl nährte der Sanger die Gluth.
Nährt‘ und reinigte sie! der Glückliche, dem in des Volkes
Stimme noch hell zurück tönte die Seele des Lieds,
Dem noch von außen erschien, im Leben, die himmlische Gottheit,
Die der Neuere kaum, kaum noch im Herzen vernimmt.(Friedrich Schiller)
Kommentar
Im Laufe seines Schaffens wandte sich Carl Orff mehr und mehr klassischen Stoffen und Formen zu. In der Mitte der 1950er Jahre, zwischen seinen Bühnenwerken Trionfo di Afrodite und Oedipus der Tyrann, komponierte er auch Chorwerke, die sich mit der Antike auseinandersetzen. Darunter finden sich die Hymne Der Sänger der Vorwelt, die strenge, sehnsuchtsfreie Totenklage Nänie und das orgiastische Gedicht Dithyrambe. Anfang der 1980er Jahre vereinte Orff sie zu einem Werk.
In seinen Dithyrambi geht Orff über den Klassizismus Friedrich Schillers hinaus. Während der Dichter seinen Blick auf das Erhabene und dessen Wirkung auf seine Innenwelt richtet, reanimiert der Komponist durch seine Satzweise das archaische Moment, den Ritus, den wollüstigen, erdverbundenen Rausch. Gleichzeitig stellt er die klassische Einheit von Musik, Gesang, Tanz, Sprache und Drama wieder her. Wie in den dionysischen Feiern der Antike fällt dem Vokalensemble dabei eine zentrale Rolle zu; übernimmt das Instrumentarium in erster Linie rhythmische Funktionen, so überformt der Chor den Text in einer eigenen musikalischen Schicht ins Hymnische.
Nachweise
Textnachweise Inhalt/Kommentar: N. N.: »Beschreibung«, in: Webseite Schott Music: Dithyrambi für gemischten Chor und Instrumente nach Texten von Friedrich Schiller, (abgerufen am 22.5.2018).
Friedrich Schiller: Die Sänger der Vorwelt/Nänie/Dithyrambe, in: Carl Orff (Hg.): Dithyrambi für gemischten Chor und Instrumente nach Texten von Friedrich Schiller, Partitur, Neufassung 1981, Mainz 1981, o. S.
-
Concento di voci
I. Sirmio
Tria Catulli Carmina
für sechsstimmigen gemischten Chor a cappella
Textdichter: Catull
Besetzung: gemischter Chor (SMezATBarB)
Sprache: lateinisch
Entstehungszeit: 1930
Publikationsjahr: 1932 [in: Catulli Carmina II]
Aufführungsdauer: 8′
Sirmio ist Teil des Zyklus Concento di voci
Aufführungsmaterial Schott Music
Werkteile / Gliederung
Jam ver egelidos
Multas per gentes
Sirmio »Paene, paene« [mit Tenor-Solo]
Inhalt
Texte:
I. Jam ver egelidos
Wieder ist Frühling: zerschmolzen die letzten Fröste.
Wieder: verbraust die Stürme der Winterwende.
Milde lebenweckende Lüfte wehen.
Laß, Catull, unter dir Phrygische Triften,
Unter dir Fruchtland Nicaeas, wo Schwüle schon brütet.
Steig auf zu den Bergstädten ostwärts, den hellen hohen.
Frühling ist wieder: dein Herz verlangt in die Weite.
Wiederum: Wander-Unruh beflügelt den Fuß dir.
Lebt wohl, ihr Lieben, auf lang! Gemeinsam zogen wir
Fort von daheim – zurück nun kehren wir einzeln,
Jeder für sich, zerstreut, auf getrennten Wegen.II. Multas per gentes
Länder viel sah ich, viel Völker, viel rollende Meerflut durchmaß ich,
Und nun stehe ich hier, Bruder, an deinem Grab,
Daß ich das Totenopfer dir spende, den letzten armen
Abschied nehme von dir, von deinem schweigenden Staub.
Ach, schon früh hat das Schicksal, das unerbittliche, Bruder,
Fremd allem sterblichen Schmerz, dich mir, dem Bruder, geraubt.
Immerhin: dulde mein Tun und nimm sie an, diese Gaben,
Wie man nach altem Gebrauch Abgeschiedenen sie weiht.
Nimm sie, Geliebter, sie sind überschwemmt von den strömenden Tränen
Meines Herzens. Ade, Bruder, auf ewig ade.III. Sirmio
Sirmio, Kleinod unter den Inseln und Halbinseln
Allen, die der Herr der Gewässer umfängt mit
Wüsten Meeren und ruh voll atmenden Landseen:
Endlich erblick ich dich wieder! Traumhaft ist mir
Zumute, daß ich nicht mehr im fernen Bithynien bin, auf
Trojanischem Blachfeld – sondern bei dir wie eh- und
Jemals. – O Lust: heimkehren, frei von Pflichten und
Sorgen, zur Flamme des eigenen Herdes und, müd von der
Mühsal, der freudlos bestandenen, in der Fremde,
Endlich aufs lang entbehrte eigene Bett sich
Hinstrecken dürfen: später Lohn für so viele
Plagen. – Gruß dir, zaubrisches Sirmio, teil meine
Freude! Wiegt sie, funkelnde Wellen! Umjauchzt mich,
All ihr Geister glücklicher Tage der Jugend!(Übertragungen von Rudolf Bach)
Kommentar
Die Überschrift und die triptychonartige Zusammenfügung dieser drei Gedichte stammen von Carl Orff, der sie, als konzertanten Nachklang, zu seinem 1943 uraufgeführten Bühnenspiel Catulli Carmina für cappella-Chor gesetzt und, in endgültiger Fassung, 1954 veröffentlicht hat.
Sirmio – das war der antike Name der heute »Sirmione« geheißenen Halbinsel am Südufer des Gardasees, dem benacus lacus der Alten. Auf ihr verlebte der als Sproß eines vornehmen und begüterten Veroneser Geschlechts 87 v. Chr. geborene und um 54 v. Chr. zu Rom gestorbene Lyriker Gajus Valerius Catullus, »der größte naive Dichter, den die römische Literatur der Welt gegeben«, eine glückhafte, behütete Kindheit und Jugend.
Die Sirmio-Gedichte entstanden 57 / 56 v. Chr., und zwar die beiden ersten in dem am Marmara- und Schwarzen Meer gelegenen kleinasiatischen Bithynien, damals bereits eine römische Provinz. Catull war dorthin, nach Art der jungen hauptstädtischen Patrizier, im Stabe des Proprätors C. Memmius, anscheinend eines ziemlich dunklen Ehrenmannes, für ein Jahr gereist; – nicht zuletzt, um, wenngleich vergeblich, von der zerrüttenden Leidenschaft zu einer Dame der römischen Society, der »Lesbia« seiner Gedichte, Vergessen zu suchen.
Dabei besuchte Catull auch das Grab seines innig von ihm geliebten Bruders, den ein Jahr vorher bereits, am Fuß des Stadthügels von Troja, das dort häufig grassierende Sumpffieber hingerafft hatte.
Das abschließende dritte Gedicht ist vermutlich im Frühsommer 56, bald nach des Dichters Heimkehr auf Sirmio, entstanden.
Diese drei lyrischen Arbeiten zeigen den eben Dreißigjährigen, auch außerhalb seiner unsterblichen erotischen Poesie, auf der einsamen Höhe klassischer Meisterschaft.
Rudolf Bach
Nachweise
Textnachweis Inhalt/ Kommentar: Rudolf Bach [Nachwort], in: Carl Orff (Hg.): Concento di voci. Sirmio, Partitur, Mainz 1954, S. 3.
-
Sprechstücke
für Sprecher, Sprechchor und Schlagwerk
Textdichter/-vorlage: Bertolt Brecht
Besetzung: Sprecher, Sprechchor, Schlagzeug, Klavier
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1976
Aufführungsmaterial Schott Music
Werkteile / Gliederung
I. Sprechstudien
Ostern
Schlüsselblumen
Sommerbäume
Sternschnuppen
Sommerfaden
Verlassenes Moor
Gespenster
Einsames LichtII. Copa Syrisca
III. Sieben Gedichte von Bert Brecht
Jahr für Jahr
Das Ölfeld
Die apokalyptischen Reiter
Moderne Legende
Karsamstagslegende
Epilog
Die LiebendenKommentar
Die Stücke für Sprecher, Sprechchor und Schlagwerk setzen die Stücke für Sprechchor von 1969 auf einer neuen Stilstufe fort.
Der Aufbau des Heftes ist dreiteilig.
Eine Folge von Sprechstudien nach eigenen Texten gibt Einblick in die Werkstatt: Ostern – Schlüsselblumen – Sommerbäume – Sternschnuppen – Sommerfaden – Verlassenes Moor – Gespenster – Einsames Licht. Die durch rhythmisch prädisponierte Bildwörter charakterisierten Sprachschöpfungen erinnern an lyrische Kleinformen der Weltliteratur. Sie berühren die Grenze zwischen Vers und rhythmisierter Prosa. Dem Bildkonzentrat antworten Klangkonzentrate instrumentaler Zeichen.
Diese Klangzeichen assoziieren primär bildadäquate Naturklänge und sinnenhafte Vorstellungen. Sie bedeuten jedoch keine naturalistische Imitation, sondern sind Impulsgeber der Imagination, gleichsam Realsymbole, die den Zugang zur essentiellen Erfahrung von Bild und Sinn öffnen.
Als Unikat folgt (textlich verkürzt) ein lateinisches Gedicht, ein Genrebild hellenistischer Prägung von einem unbekannten Dichter aus dem Umraum Vergils: Copa Syrisca.
Eine syrische Schankwirtin tanzt mit lärmenden Klappern vor ihrer Taverne und lädt den hitzemüden Wanderer in den Schatten ihrer Lauben zum Wein. Am Ende steht ein heiter-nachdenkliches ›Memento mori‹, das mehr zum Genuß des Augenblicks ermuntert als daß es schrecken will. Der Tod zupft den Zecher am Ohr: Lebt, sagt er, ich bleibe nicht aus!
Das elegische Versmaß ist in der Klangeinrichtung der Rhythmik eines imaginierten »Sprechtanzes« mit Kastagnetten unterworfen. Die Nähe zur Szene ist spürbar.
Im dritten Teil hat Orff Sieben Gedichte von Bert Brecht zusammengestellt. Er knüpft an Ideen an, die er vor Jahrzehnten aufgeben mußte.
Die von dem Lyriker Brecht ausgehende Faszination hat Orff nie losgelassen. Bezeichnenderweise holt er aber nicht die in den dreißiger Jahren geplanten Stücke »Aus einem Lesebuch für Städtebewohner« (siehe Dokumentation I 68 und 238) wieder hervor, sondern greift zunächst zum frühesten Brecht, wo dieser »eine eigenartige, scheu unter vielen Krusten verdeckte, ganz diesseitige Frömmigkeit« erkennen läßt (H. Lüthy, Fahndung nach dem Dichter Bertolt Brecht, Zürich 1972, 16).
Aus dem Jahr 1915 stammen Karsamstagslegende und der erstmals bei einer Totenfeier gesprochene Epilog, während Modeme Legende einen unmittelbaren dichterischen Reflex des ersten Weltkrieges in dem Sechzehnjährigen darstellt. In die zwanziger Jahre gehören der Vierzeiler Jahr für Jahr (1921) und das von Orff aus dem Operntext von »Mahagonny« isolierte, den nihilistischen Schluß umdeutende Duett vom Kranich und der Wolke: Die Liebenden (1928/29).
Zwei der von Orff ausgewählten Gedichte stammen aus Brechts »aktivistischer Epoche«, wo er den »Tonfall der direkten momentanen Rede« zum neuen Medium lyrischer Aussage deklariert hat. Das Ölfeld, 1934 für eine Überarbeitung des gleichnamigen Stückes von Leo Lania geschrieben, läßt in dem plakativen Bilddialog noch die szenische Struktur engagierten Theaters erkennen. Die Nachbarschaft zu Orffs früherem Männerchorsatz von 1931 »Siebenhundert Intellektuelle beten einen Öltank an« drängt sich auf. Schon damals hatte er mehr Sprechen als Singen gefordert.
Das späteste Stück sind Die apokalyptischen Reiter (1944). Sie waren als Teil eines Fragment gebliebenen »Lehrgedichts von der Natur des Menschen« in Anlehnung an das lateinische Epos des Lukrez »Von der Natur der Dinge« vorgesehen. Daher die Verwendung des Hexameters, der »respektablen Versart«, wie Brecht ihn nennt, und die quasiepische Diktion, die in eine balladesk-legendäre Tonart voll rätselhafter Magie gebrochen erscheint.
Zweifellos hat zunächst die Bildkraft dieser Gedichte den Musiker gereizt. Die Legitimation für eine klangliche Darstellung aber liegt schon in der besonderen Machart, in einer dem Gedicht eigentümlichen Sprechklangdisposition, die von dem Dichter selbst vorgegeben ist. Es überrascht nicht, daß Orffs Lieblingsvorstellung eines gestischen Sprechmusizierens in Brechts theoretischen Selbstdeutungen ihr genaues Pendant hat. In seiner berühmt gewordenen Rechtfertigung »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen« schreibt Brecht: »Man muß … im Auge behalten, daß ich meine Hauptarbeit auf dem Theater verrichtete; ich dachte immer an das Sprechen. Und ich hatte mir für das Sprechen (sei es der Prosa oder des Verses) eine ganz bestimmte Technik erarbeitet. Ich nannte sie gestisch. Das bedeutete: Die Sprache sollte ganz dem Gestus der sprechenden Person folgen.« (Werkausgabe 19, 398).
Wenn demnach Brechts rhythmische Vitalität darin gründet, »daß er die Vers- und Strophenmaße körperlich erlebt, weil er seine Gedichte singend konzipiert« (W. Muschg, Von Trakl zu Brecht, München 1961, 344), dann ist der Musiker provoziert, Sinngebung und Emotion des Vortragenden in einen konkreten Klanggestus rhythmisierten Sprechens mit Instrumenten zu verdichten.
Man kann, sagt Orff selbst, solche Gedichte weder singen noch in üblicher Manier sprechen; man muß sie interpretieren.
Die Stücke für Sprecher, Sprechchor und Schlagwerk verwirklichen in letzter Konsequenz Orffs Grundintention, die Musik in die Sprache hereinzuholen, ohne deren Autonomie aufzuheben.
-
Orff-Schulwerk I Stücke für Sprechchor
Verfasser: Carl Orff, Vorwort von Werner Thomas
Sprache: deutsch
Publikationsjahr: 1969 (Schott ED 5583)
Besetzung: Sprechchor, Instrumentalensemble
Besetzung detailliert
Chor, Soli (SATB), Violoncello, Flöte, Pauken, Schlagwerk (Sopran-Xylophon, Alt-Xylophone, Bass-Xylophon, Schellentrommel, Kleine Trommel mit Schnarrsaite, Holzblocktrommeln, Röhrentrommel, Becken, Cymbel, Triangel, Tamtam, Rasseln, Bongos, Gläser, Stäbe)
Arbeitsmaterial Schott Music
Inhalt
Chor aus Oedipus auf Kolonos (Sophokles – Hölderlin)
Pindars Erste Olympische Hymne (Hölderlin)
An den Schlaf (Sophokles Philoktetes)
Aus Brod und Wein (Hölderlin)
Die Jahreszeiten (Hölderlin)
Der Frühling
Der Somer
Der Herbst
Der WinterQuando conveniunt
Sententia
Zwei Oden von Klopstock:
Die frühen Gräber
Weihtrunk an die toten FreundeRequiem (Hebbel)
Der Abend (Schiller)
Omnia tempus habent
Drei Stücke aus Goethes Faust:
Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe
Hexen-Einmal-Eins
Die grauen Weiber (mit Instrumenten)Kommentar
Die Stücke für Sprechchor zeigen Möglichkeiten, das dichterische Wort als ein ursprünglich und wesenhaft Erklingendes zu verwirklichen. Die Sprache wird rhythmisiert oder von einem rhythmisch profilierten Klanggrund getragen. Instrumentale Impulse lösen den Ablauf aus, gliedern oder akzentuieren ihn. Die a-cappella-Anlage einer solchen Klangpartitur dürfte am schwierigsten zu realisieren sein.
Durch die Fixierung ihrer metrischen Komponenten wird die dichterische Sprache leibhaft plastisch; Klang und Sinn, Wort und Bild teilen sich als ontologische Ganzheit mit. Die Rangordnung der Sprachelemente wird klingend erfahren.
»Die Gesetze des Geistes aber seien metrisch … Nur der Geist sei Poesie, der das Geheimnis eines ihm eingeborenen Rhythmus in sich trage, und nur mit diesem Rhythmus könne er lebendig und sichtbar werden.« (Bettina von Arnim, Gespräche mit Hölderlins Freund).
Die Vergegenwärtigung des klingenden Sprachleibes aber ist ein – im weitesten Sinne gesprochen – pädagogischer Akt. Der rhythmisch-metrische Vollzug der Sprache in solistischer Rezitation oder in chorischem Klangruppensprechen bedeutet primär nicht Komposition, sondern modellhafte Interpretation. Sie wird nicht erst im Endergebnis des eingelernten Stückes fruchtbar, sondern im Arbeitsvorgang selbst. Durch die Arbeit an der erklingenden Sprache wird nicht ihre rational-dialektische Komponente in den Vordergrund gestellt, sondern ihre zeichenhafte Symbolik entbunden. Das Wortkunstwerk ist für den tätig Aufnehmenden nicht mehr Lernstoff und geschichtlich distanziertes »Sprachdenkmal«, sondern Gegenwart des Geistes im Hier und Jetzt des Vollzuges. Es entsteht eine spontan-unmittelbare Beziehung von bleibender Integrationskraft.
Die Einrichtung für Sprechchor stellt eine Endform vor der Musikalisierung dar, gleichsam eine Komposition ohne Töne. Von dieser Erkenntnis her ist die Arbeit an der Dichtung und ihre Wiedergabe anzulegen. Entsprechend den Texten kann kleines Ensemble (kammermusikalisch-solistisch) wie auch große Besetzung, einfach- und doppelchörig, verwendet werden. Klangmodelle finden sich auf den Musica-poeticaPlatten der harmonia mundi, insbesondere auf Platte 10 (HMS 30 659).
-
Concento di voci
III. Sunt lacrimae rerum
Cantiones seriae
für sechsstimmigen Männerchor, Tenor-, Bariton- und Bass-Solo
Textdichter/-vorlage: diverse
Besetzung: Männerchor (TTTBBB) und Soli (TBarB)
Sprache: lateinisch
Entstehungszeit: 1956
Uraufführung: 21. Juli 1957 Solingen (D) · Männergesangsverein Solingen-Wupperhof · Dirigent: Bernhard Bittscheid
Aufführungsdauer: 15′
Sunt lacrimae rerum ist Teil des Zyklus Concento di voci
Aufführungsmaterial Schott Music
Werkteile / Gliederung
Omnium deliciarum (Orlando di Lasso)
Omnia tempus habent (Ecclesiastes III)
Eripe nos (anonym)
Inhalt
Texte:
I
Omnium deliciarum
et pomparum saeculi
brevi finis.
Mors, dolor,
luctus et pavor
invadit omnes.
In hora ultima
peribunt omnia.
Tuba, tibia et cythara,
jocus, risus,
saltus, cantus et discantus.
Omnium deliciarum
et pomparum saeculi
brevi finis.
Mors, dolor.
luctus et pavor
invadit omnes.(Orlando di Lasso)
Lust und Herrlichkeit
Der Welt
Endet bald.
Tod, Schmerz,
Trauer und Furcht
Ergreift alle.
In jener letzten Stunde
Gilt nichts mehr:
Nicht Tubaklang, Flöte und Zither,
Scherzen und Lachen,
Tanz, Sang und Wechselgesang.
Lust und Herrlichkeit
Der Welt
Endet bald.
Tod, Schmerz,
Trauer und Furcht Ergreift alle.***
II
Omnia tempus haben
et suis spatiis transeunt
universo sub coelo:
tempus nascendi
et tempus moriendi
tempus plantandi
et tempus evellendi
quod plantatum est.
tempus occidendi
et tempus sanandi
tempus destruendi
et tempus aedificandi
tempus flendi
et tempus ridendi
tempus plangendi
et tempus saltandi
tempus spargendi lapides
et tempus colligendi
tempus amplexandi
et tempus longe fieri
ab amplexibus
tempus acquirendi
et tempus perdendi
tempus custodiendi
et tempus abjiciendi
tempus scindendi
et tempus consuendi
tempus tacendi
et tempus loquendi
tempus dilectionis
et tempus odii
tempus belli
et tempus pacis!(Ecclesiastes III)
Alles hat seine Zeit
Und läuft seine zugemeßne Bahn
Unter dem Himmel: die
Zeit des Geborenwerdens und
Die Zeit des Sterbens; die
Zeit des Pflanzens und
Die Zeit des Ausreißens dessen,
Was gepflanzt ward; die
Zeit des Untergangs und
Die Zeit des Gesundens; die
Zeit des Niederreißens und
Die Zeit des Erbauens; die
Zeit des Weinens und
Die Zeit des Lachens; die
Zeit des Jammers und
Die Zeit des Tanzens; die
Zeit, da man die Steine umherwirft und
Die Zeit, da man sie sammelt; die
Zeit des Umarmens und
Die Zeit, da man nichts weiß vom
Umarmen;
die
Zeit des Erwerbens und
Die Zeit des Verlierens; die
Zeit des Bewahrens und
Die Zeit des Wegwerfens; die
Zeit des Zerreißens und
Die Zeit des Pflegens; die
Zeit des Schweigens und
Die Zeit des Redens;
dieZeit der Liebe und
Die Zeit des Hasses; die
Zeit des Krieges und
Die Zeit des Friedens!***
III
»Et tempus pacis!«
»pacis?« –
Eripe nos
Domine
ex ungulis mordacibus
horribilis istius daemonicae,
quae dicitur:
cordis gravitas,
tristimonia,
melancholia.Hilares estote,
amici,
atque fiduciae pleni!
»Dammi il paradiso!«»Und die Zeit des Friedens!«
»Des Friedens?«
Reiß uns,
Herr,
Aus den tödlichen Klauen
Jener furchtbaren Teufelin,
Die da heißt:
Schwermut,
Traurigkeit,
Melancholie.Seid heiter,
Freunde,
Und voll Vertrauen!
»Dammi il paradiso!«(Übertragen von Rudolf Bach)
Kommentar
Das dritte Stück der Concento-di-Voci-Sammlung ist: Sunt lacrimae rerum, Cantiones seriae, für sechsstimmigen Männerchor, Tenor-, Bariton- und Baßsolo auf Texte eines Dichters aus dem 16. Jh. und Ecclesiasticus III. Es wurde 1956 geschrieben und ist der Stadt Solingen gewidmet. Uraufführung: Solingen, 21.Juli 1957.
Die Anmerkung zur Partitur lautet: »Die sehr wichtige Stimmeinteilung und -verteilung bleibt dem Chorleiter überlassen. Sie wird nach den Gegebenheiten jeweils eine andere sein. Das Notenbild soll hier lediglich die beabsichtigte Klangwirkung vermitteln.« Man erinnert sich, daß Orff starke Anregungen aus der Renaissancemusik erhielt.
-
Toskanische Volkslieder
Op. 17, No. 2
Textdichter/-vorlage: anonym (Übersetzung: Paul Heyse)
Besetzung: Singstimme, Piano
Sprache: deutsch
Entstehungszeit: 1912
Publikationsjahr: 1912 (Ernst Germann & Co., München/Leipzig)
Diese Edition ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Inhalt
- Sag mir, du Schöner
- Wie pflegt ein ländlich Mädchen
- Heut’ trieb’s um Mitternacht mich, aufzustehn
Kommentar
Vier Lieder für Tenor, op. 17, vereinten eine lyrische Reflexion von Martin Greif Liebessorgen mit 3 Toskanischen Volksliedern (in der Übersetzung von Paul Heyse), […] eine Auftragsarbeit für einen Sänger. Orff versucht, mit pseudo‑folkloristischen Einfällen bewußt konventionell zu sein.
Nachweise
Textnachweis Kommentar:
Siehe Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 96.
-
Des Turmes Auferstehung
für zwei Männerchöre und Orchester
Text von Franz Werfel
Textdichter/-vorlage: Franz Werfel
Besetzung: 2 Männerchöre und Orchester
Sprache: deutsch
Kompositionsjahr: 1910, rev. Fassung 1920
Uraufführung: 6. Dezember 1995 München (D) · Dirigent: Andreas S. Weiser · Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks · Chor des Bayerischen Rundfunks
Aufführungsdauer: 14′
Besetzung detailliert
Orchester: 5 (3. u. 4. auch Picc.) · Altfl. · 4 · Engl. Hr. · Heckelph. · 0 · 5 (5. auch Kfg.) · Kfg. – 0 · 8 ad lib. · 4 · 0 – P. S. (Zimb. · Beck. · Tamt. · Gl. · gr. Tr.) (3 Spieler) – 6 Hfn. (ad lib. 3) · 6 Klav. (ad lib. 3) · Org. – Str.
Aufführungsmaterial Schott Music
Kommentar
Das Wort »Turm« erscheint als symbolisches Schlüsselwort. Orffs Studien in dieser Epoche sind der Arbeit einer Bauhütte vergleichbar. Was sich in der Riesenpartitur des »Turm« vor dem Leser und potentiellen Hörer aufschlägt, mutet wie eine musikalische Projektion von Bauhüttengrundrissen an.
Bezeichnend für die neue kompositorische Situation ist die Tatsache, daß Vorstellungen und Entwürfe für eine derartig großräumige Komposition bereits vor Orffs Begegnung mit Werfels Text bestanden haben. Der Text hat demnach Charakter und Funktion eines Gerüstes, das zwar Voraussetzungen für den Bau schafft, aber nicht als Ziel und Erfüllung des Baues selbst gelten kann.
Die Konzeption einer Großform bedeutet den längst angezielten Übergang zu dem Einsatz von Chor und Orchester. Die Komposition gehört der gleichen Zeitphase an wie »Mondlied« und »Ode«. Die Reinschrift der Partitur trägt das Datum des 13. Juni 1920; eine Zweitschrift das des 26. Mai 192l. Die Abweichungen der beiden Niederschriften sind geringfügig. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch hervorzuheben: die Umstellung der beiden Solobässe der Erstkonzeption auf zwei Chöre. Der Text aus der Gedichtsammlung »Wir sind« von 1913 lautet:
DES TURMES AUFERSTEHUNG
Der Turm
Ich war ein Turm vor manchem Jahr,
Bis daß man mich zerbrach
Nun dröhnet die Posaunenschar,
Da bin ich worden wach.Ein Garten stand um meinen Fuß,
Die Bäume waren lieb.
Mein Kranz war feurig von dem Gruß
Des Himmels, der weitertrieb.Mein Maul war schwarz und knarrte wild
Von Eisen, das sich bog.
Allein mein Auge brannte mild,
Wann’s über die Stürme flog.Der Fluß zog schwer an mir vorbei,
Der Flößerlampen Glühn.
Und unter meinem Einerlei
War die Schnittlauchlandschaft grün.Ich liebe dich und liebe mich,
Mein Herr, laß mich bestehn!
Aus diesem Tage fürchterlich
In dein Reich eingehn!Der Herr
Als ich mich schuf, da war’s mein Schmerz,
Der in die Weiten fuhr.
Und eines jeden Lebens Herz
Schlug meines Herzens Uhr.Nun will mein Schmerz in mich zurück,
Da brach die Zinke los.
Und jedes Weh und jedes Glück
Stürzt sich in meinen Schoß.Ach, als ich mich erschuf zur Welt,
Da war ich nichts und aus.
Jetzt aber bin ich neubestellt,
Und wachse wie ein Haus.Und meine Liebe ausgestreut,
Wie sammelt sie sich hier!
Und jedes Wesen, das sich beut,
Ein Baustein ist’s an mir.Turm, schwing’ dich auf, du treuer Mann,
In meinen Busen weit!
Es hebet, ja nun hebt sie an
Die große Kinderzeit.Das Gedicht deutet den Jüngsten Tag nicht als Weltgericht, sondern im Sinne der Gnostiker als eine »Wiederbringung von allem« (nach Apostelgeschichte 3,21). Der Weltenschöpfer, der sich durch den Akt der Schöpfung schmerzlich zerteilt hatte, nimmt alles Geschaffene, so auch den geborstenen Turm, in sich zurück und gewinnt dadurch wieder ganz sich selbst:
Und jedes Wesen, das sich beut,
Ein Baustein ist’s an mir.Für den »Kindheitsvirtuosen« Werfel, wie ihn Karl Kraus genannt hat, war dieser Neubeginn der Anbruch der »großen Kinderzeit«.
Die Größe des Gegenstandes legte für den Musiker die chorische Ausführung mit großem Orchester, die Zweiteiligkeit des Dialogs zwischen Partnern in verschiedenen Ebenen eine räumliche Anlage mit der Trennung der Schauplätze: »Himmel« und »Welt« für die beiden Chöre nahe.
Gedacht ist an eine doppelstöckige Aufstellung der Chöre in getrennten Ebenen. Chor I – ebenerdig – steht für den Turm, Chor II – in der Höhe postiert – für die Stimme des Herrn.
Besetzung:
Chor I, der Turm: Bässe und Tenöre
Chor II, die Stimme des Herrn: Bässe und Tenöre
Streicher
I. Gruppe: 1. Violinen, 2. Violinen, 3. Violinen
II. Gruppe: 1. Bratschen, 2. Bratschen, 1. Celli, 2. Celli, 1. Bässe, 2. Bässe
III. Gruppe: Celli, Bässe
6 Flöten (incl. 2 Altflöten), 6 Oboen (incl. Englischhorn und Heckelphon), 6 Fagotte (incl. 2 Kontrafagotte), 4 Posaunen, 8 Trompeten (ad lib.), 6 Harfen, 6 Klaviere, Pauken, Cymbeln, Becken, große Trommel, Tamtam, Glocken, OrgelEs ist bezeichnend, daß die »romantischen« Instrumente, Hörner und Klarinetten, fehlen.
Die musikalische Anlage stellt sich dar als eine großdimensionierte Flächenkomposition auf dem Wege zu dem von Orff immer konsequenter verfolgten Perkussionsstil. Charakteristisch dafür ist die Hereinnahme von sechs Klavieren als Perkussionsinstrumente in das Orchester, die zu den im Erstentwurf vorgesehenen sechs Harfen als Unterbau hinzutreten.
Die vierzigzeilige Partitur macht schon optisch den Eindruck des Außergewöhnlichen. Die Notation kennt nur Halbe, Ganze und Breven. Es gibt keine Punktierungen und keine Ligaturen. Breit hingestreckte Klangebenen und mehrtönige Orgelpunkte stellen eine Gerüstfundamentierung dar. Die Faktur des Klangsatzes läßt auf einen Blick erkennen, daß es sich nicht um eine thematisch entwickelnde, sondern um eine statische, wenn auch schreitende und fließende Klangentfaltung handelt. Die Vortragsbezeichnung »Langsam, schreitende Halbe« bestimmt die Gangart des ganzen Werkes. Alles ist gebändigte und proportionierte tektonische Form.
Der durch das Gedicht vorgegebene Dialog zwischen dem irdischen und dem himmlischen Partner hat für die musikalische Großgliederung eine Zweiteilung zur Folge. Die Sprache ist in beiden Teilen zunächst monologisch‑reflektierend. Erst in der jeweils letzten Strophe wendet sich der Sprechende an sein Gegenüber. Das manifestiert sich musikalisch beim »Turm« durch die höchstmögliche dynamische Ausladung, die der breiten Orchesterausleitung bedarf; bei dem »Herrn« durch ein instrumentales Zitat seines Anrufes an den Turm, indem die Posaunen den Oktavanhub: »Turm, schwing dich auf!« dreimal wiederholen und damit den gewaltigen Schluß einleiten […].
Der erste Teil gleicht einer Schwarzweißzeichnung in überdimensionierten Linienzügen. Der einstimmige Textvortrag in diatonischen Schritten, den die Instrumente in der aus den Klavierliedern bekannten colla‑parte‑Technik mitmachen, alterniert mit instrumentalen Klangzügen. Ein Orgelpunkt auf D trägt einen rahmengebenden Quint‑Oktav‑Klang, innerhalb dessen eine Pendelfigur aus den Tönen d und e gleichsam als übermenschliches Schrittmaß hin und her schwingt.
Die »Landschaftsstrophen« des Turmes (2-4) sind aufeinander bezogen durch den klanglichen Oberbau eines je dreimal erklingenden, dreistimmigen Kanons der Holzbläser, der aus der melischen Substanz der Vokalstimme gebildet ist und strophenweise von den Flöten über die Oboen zu den Fagotten weitergegeben wird.
Mit dem Anruf des Turmes an den Herrn in der letzten Strophe kehrt in terrassendynamischem Kontrast die Diktion der ersten Strophe wieder. Die auf die Textworte: »Ich liebe dich« beginnende Kantilene wird abrupt abgebrochen durch eine lapidare Kadenz, die auf das Wort »fürchterlich« mit einem f‑Moll‑Dreiklang einsetzt. Ihr solitäres Auftreten ist von elementarer Wucht […].
Von der Schwarzweiß-Tektonik des Turmes hebt sich die Stimme des Herrn mit einem einmantelnden Dreiklang auf G in mystischer Leuchtkraft ab. Die Orgel gibt die Grundfarbe. Das scheinbare G‑Dur erweist sich freilich in der melischen Entfaltung als ein G‑Lydisch, das in der instrumentalen Schlußapotheose in C-Lydisch übergeht.
Der Klangsatz ist bis ins Detail aus der Substanz der Singstimme abgeleitet und nach dem aus den Klavierliedern bekannten Prinzip der Spiegelung gearbeitet […].
Diese Spiegeltechnik in der Terz, auf die vokalen und instrumentalen Klangzüge wechselseitig angewandt, bindet den Satz zur Einheit. Von Bratschen, Celli und Bässen eingeführt bildet sich ein Cantus von je sieben Takten aus, die von den Flöten wiederholt werden. Über die alternierenden Teile hinweg aber nehmen die Posaunen das Ertönen der göttlichen Stimme auf und lassen sie, am Schluß durch Trompeten verstärkt, in vierfacher Vergrößerung als einen choralischen Cantus firmus ertönen. Die Augmentation gibt der »Stimme« eine transzendentale Qualität. Die Einheit der musikalischen Substanz in dem Gegeneinander von Grundgestalt und Vergrößerung chiffriert die Idee: ein Dialog der Gottheit mit sich selbst in jener Weltstunde, in der sie die außer sich gesetzte Schöpfung wieder in die eigene Selbstheit zurücknimmt.
Dieser Augenblick der Wende ist musikalisch mit dem Umschlag in das C‑Lydische artikuliert. Trotz der modalen Färbung ist die im Bewußtsein latent empfundene elementare Kadenzspannung von G nach C in die Schlußbildung einbezogen. Sie bedarf des großräumigen Ausschwingens durch das volle Orchester. Glocken, Cymbeln, Becken bringen im Zusammenklang mit den Trompeten und dem langen Paukenwirbel auf C einen geradezu biblischen Glanz ein. Der Klang wird durch die Orgel gleichsam liturgisch versiegelt.
Die Partitur des Turmes wurde rasch entworfen und in kürzester Zeit fertiggestellt.
Die Erstschrift von 1920 wie die Zweitschrift von 1921 enthalten eine große Anzahl von Notizen, die belegen, wie sehr das Werk Orff noch weiterhin beschäftigte. Zu einer Aufführung kam es nie. Die Zeit hätte wohl für diesen einsamen Giganten keinen Platz und kein Verständnis finden können.
Auch im Schaffen Orffs blieb das Stück ohne Nachfolge. Zwar lagen weitere Planungen nach Texten Werfels vor, die bis in die Besetzung skizziert waren; aber sie wurden nicht ausgeführt.
Nachweise
Textnachweis Kommentar:
Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 170-183.
-
Veni creator spiritus
Kantate Nr. 1
für gemischten Chor, 3 Klaviere und Schlaginstrumente
Textdichter/-vorlage: Franz Werfel
Besetzung: gemischter Chor (SATB), 3 (2) Klaviere und Schlagzeug (5 Spieler)
Sprache: deutsch, englisch
Entstehungszeit: 1930, revidiert 1968
Uraufführung: 11. Oktober 1930 München (D)
Aufführungsdauer: 10′
Veni creator spiritus ist Teil der Kantaten nach Texten von Franz Werfel
Besetzung detailliert
Sänger: Chor (SATB)
Instrumente: 3 Klaviere (ossia 2 Klaviere), 3 Pauken
Schlagwerk: 4 kleine Pauken oder Tomtoms · kleine Trommel · Tamburin · große Trommel · 2 Triangel · antike Zimbeln · 3 hängende Becken · Beckenpaar · Gong · Maracas · Glockenspiel · Kastagnetten · Xylophon (5 Spieler)
Aufführungsmaterial Schott Music
Werkteile / Gliederung
Litanei »O Leib und Leid«
Nacht »O die ihr geht am Abend«
Veni creator spiritus »Komm heiliger Geist«
Die Chorsätze sind auch einzeln aufführbar.
Kommentar
Die 1929/30 entstandenen drei Werfel-Kantaten erschienen 1931 (I/II), 1932 (III) zum ersten Mal im Druck. Sie waren unter dem Titel »Werkbuch I« zusammengefaßt.
Jeweils drei Gedichte sind zu einer Kantate vereinigt. Einer der Einzeltitel bildet zugleich den Gesamttitel und zeigt damit die gedankliche Leitlinie an.
[…]
Die Neufassungen der »Lieder und Gesänge« in den Kantaten stellen nicht etwa bloße klangliche Erweiterungen durch Übergang von der Solostimme zum Chor, vom Klavier zum Instrumentalensemble dar; erst recht nicht Instrumentierungen des Klaviersatzes. Es handelt sich vielmehr um Neuerfindungen in einer gewandelten Klangvorstellung. Zur Veranschaulichung können die Neudrucke der Kantaten und Chorsätze von 1968 und später herangezogen werden (Verlag Schott).
Der Kompositionsstil ist bestimmt durch die Klangpalette eines Instrumentariums, das die Zusammensetzung des spätromantischen Orchesters völlig aufgegeben hat. Zum ersten Mal wird ein Klangkörper zusammengestellt, der eine längere Arbeit mit dem Schulwerk und die dort entwickelten Instrumente zur Voraussetzung hat. Freilich waren viele Schlaginstrumente aus Fremdkulturen als Effektinstrumente im europäischen Orchester längst eingeführt worden. Die Neuartigkeit des Orff‑Stils aber liegt darin, daß das Schlagwerk autonom eingesetzt wird. Es entsteht ein fundamental neues, im wörtlichen Sinn unerhörtes Klangspektrum.
Vor allem durch die Stabspiele werden neue Klangbereiche erschlossen. Nach indonesischen und afrikanischen Vorbildern werden Xylophone in allen Größen entwickelt, zuletzt auch in der Baßlage. Die individuellen klanglichen Möglichkeiten von Fell, Holz und Metall, aber auch anderer Idiophone aller Art werden bis in die feinsten Differenzierungen ausgehört. Sie ergeben eine unendliche Vielfalt neuartiger Klangfarben.
Grad und Eigenart der Innovation verdeutlichen sich aber auch an dem Einsatz des Klaviers. Die drei Klaviere der Kantaten sind in ihrer Funktion nicht mehr identisch mit dem Klavier der Liedfassungen. Das Klavier stand dort, ungeachtet der fortschreitenden Zurücknahme spezifisch pianistischer Aufgaben und ihrer technischen Ausführbarkeit, immer noch innerhalb einer Liedstruktur in der Nachfolge des Begleitinstruments, das die Solostimme partnerschaftlich ergänzt.
In den Kantaten sind die Klaviere in ein Schlagwerkensemble integriert. Sie fungieren teils als Perkussionsinstrumente, teils als Träger eines nicht mehr harmonischen, sondern klangtektonischen Fundaments.
Der Stilwandel in den Kantaten betrifft demnach den instrumentalen Aspekt der Komposition, somit aber auch die Komposition als Ganzes. Er hat eine veränderte Gewichtung und »Wertigkeit« der chorisch geführten Singstimme im Gesamtgefüge des Klangsatzes zur Folge.
Nachweise
Textnachweis Kommentar:
Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 187-189.
-
Zurück zur Übersicht
Vom Frühjahr, Öltank und vom Fliegen
Chorsätze nach Texten von Bertolt Brecht
Für gemischten Chor, drei Klaviere und Schlaginstrumente
Textdichter/-vorlage: Bertolt Brecht
Besetzung: gemischter Chor (SATTBB), 3 Klaviere, Schlagwerk (6-9 Spieler)
Sprache: deutsch, englisch
Kompositionsjahr: 1930, rev. 1973
Uraufführung: 11. Juli 1965 Stuttgart (D)
Aufführungsdauer: 15′
Der Chorsatz Vom Frühjahr, Öltank und vom Fliegen ist Teil der Kantaten nach Texten von Bert Brecht
Besetzung detailliert
Sänger: Chor (SATTBB)
Instrumente: 3 Klaviere (ossia 2 Klaviere)
Schlagwerk: 2 Rührtrommeln · 3 Tomtoms · kleine Trommel · 2 Tamburin · 2 große Trommeln · 8 hängende Becken · 2 Holzblöcke · Crotales · Triangel · Gong · Kastagnetten · Maracas · Glockenspiel · Xylophon (6-9 Spieler)
Aufführungsmaterial Schott Music
Werkteile/Gliederung
1. Über das Frühjahr
2. Siebenhundert Intellektuelle beten einen Öltank an
3. Bericht vom Fliegen
Die Chorsätze 1 und 3 sind auch einzeln aufführbar. Lediglich Satz Nr. 2 darf nicht allein, nur in Verbindung mit den anderen beiden Chorsätzen aufgeführt werden.
Kommentar
Über das Frühjahr
Männerchor a cappella
Die Satztechnik weist auf das Stilprinzip der Paraphonie. Der a cappella Satz beschränkt sich auf die Monotonie eines diffusen Spannklanges für Tenor und zwei Bässe.
[…]
Siebenhundert Intellektuelle beten einen Öltank an
Männerchor und Schlagwerk
[…]
Dem nachdenklichen Eröffnungsstück folgt ein Monstrum in großer Schlagwerkbesetzung: die Anbetung des Öltanks als neuer Gott durch die Intellektuellen. Brecht hat nach der Maske des Grotesken gegriffen. Die freche Persiflage auf das Vaterunser verliert in der sich überschlagenden Travestie ihre Schärfe; ironische Distanz legt sich dazwischen.
[…]
Orffs Einrichtung treibt die Groteske erst recht hervor. Die künstlich exaltierte Prosadiktion des Chores ist von greller Aufdringlichkeit, als seien die Worte mit lauter Großbuchstaben geschrieben. Den Intellektuellen ist die jahrtausendalte Maske vor der Bildung des Homo sapiens übergestülpt. Die Deklamation ist steinzeitlich verfremdet. Es ist weder ein Singen noch ein Sprechen.
Auch der Schlagwerksatz legt die Absichten des Musikers offen. Er wechselt zwischen gespielt klotziger Primitivität und kaschierter Raffinesse; so z.B. in der metrischen Verschiebung des Schlagwerks gegen den Chor.
Bei den »hohen« Worten, wie »Unsichtbarer«, »unendlich«, »Geheimnis«, »unerforschlich« wird die Szene zum Ritus einer Schwarzen Messe. Der Tanz um das technisierte goldene Kalb wird zelebriert. Aus dem Läuten der Glockenspiele und antiken Cymbeln über Becken, Triangel und Gong steigt musikalischer Weihrauch auf. Irrationale Spaltklänge mischen sich in die gleitenden Sextparallelen der Bässe. Legatobögen, Vorzeichnungen, Zurücknahme der Dynamik kennzeichnen die veränderte Atmosphäre.
[…]
Die Schlußpassage ist charakterisiert durch die bewußte Primitivierung des Schlagwerksatzes zur Geräuschcollage. Darüber schnurrt in den pervertierten Formeln des Gebets das sinnentleerte Geplärre eines eingelernten Parteiprogramms ab, das Negativ eines ekstatischen Rituals zur Heroisierung der Dummheit. Das triviale Schlagwerk signalisiert zum Schluß lautstark den Triumph des Unverstandes.
[…]
Bericht vom Fliegen
Gemischter Chor
[…]
Der Text bildete zuerst den Schluß eines Hörspieles »Der Ozeanflug«, das Brecht im Anschluß an Lindberghs Atlantiküberquerung geschrieben hatte. Er hat ihn dann als Vorspruch in sein »Badener Lehrstück vom Einverständnis« übernommen.
Orff geht unberührt von der ideologischen Programmierung des Lehrstücks an den Text heran. Er isoliert ihn mit unbekümmertem Zugriff als lyrische Reflexion und setzt die Akzente nach seinen musikalischen Vorstellungen.
Ein maschinenhaft stampfender Klangsatz der Klaviere leitet den Text ein.
[…]
Die musikalische Erfindung im ersten Teil kumuliert in dem zentralen Bild: geflogen. Ein weitgespannter Klangzug aus gegeneinander sich verschiebenden Intervallen nach Art eines Mini-Kanon imaginiert den erstaunlichen Vorgang.
Die stärkste Faszination für den Musiker scheint aber von der Vorstellung der Zeit ausgegangen zu sein. »Tausend Jahre«, diese in Brechts Text nur ungefähre, fast beiläufige Angabe, wird zu einer musikalischen Demonstration der Zeit ausgebaut. In wechselnden Techniken umkreist der Musiker das Unbegreifliche: zunächst schwingende punktierte Klangketten der geteilten Männerstimmen, von Schlagwerkakzenten gestützt; daraus wachsen neumenartige Melismen »molto rubato quasi orientale« einer solistischen Altstimme. Die mehrfache Wiederholung der Worte: »tausend Jahre« in Abweichung vom Text bezeichnet die autonome musikalische Gestaltung: die Demonstration der Zeit wird zu einer Meditation über die Zeit.
Dieser statisch schwingende, weitgehend rezitativ ähnliche Mittelteil steht in starkem Kontrast zu den erregten schnellen Ecksätzen, die auch durch den Einsatz anderer Instrumente (vor allem der Klaviere) ein gegensätzliches Klangbild erhalten. Über die ungegliederte Prosa Gangart des Brechtschen Textes hinweg ist ein musikalisch eigengesetzlicher Formgrundriß entstanden. Der letzte Teil greift in seiner Haltung auf den ersten zurück.
[…]
Orff hatte daran gedacht, die Wiedergabe der Chorsätze mit einer Filmvorführung zu parallelisieren. In ruckhaften, mit den Phasen des musikalischen Ablaufs synchronen Überblendungen sollten die Bildkerne des Textes filmisch umgesetzt werden.
Folgende Motive schwebten ihm dabei vor:
Frühjahr: ziehende Wolken, Vögel und Leitungsdrähte in der Landschaft;
Öltank: Trickaufnahmen eines Öltanks, in seiner Umgebung eine wimmelnde Menschenmenge in der Situation einer Schwarzen Messe;
Fliegen: im ersten Teil naturalistische Reportage Aufnahmen vom Flugbetrieb auf einem Flugplatz, im Mittelteil Bilder der chinesischen Mauer mit langsam schreitenden Kamelen, vom Flugzeug aus aufgenommen.
Hier wäre das Bild zum Zeichen geworden für die zeitlose Präsenz der tausend Jahre, die Orff musikalisch fasziniert und ihn zu der selbständigen Meditation über die Zeit angeregt hatten.
Der Plan eines mit der Musik synchron laufenden Filmes wurde nie verwirklicht. Auch zu einer Aufführung, der Chorsätze kam es [vorerst] nicht.
Nachweise
Textnachweis Kommentar:
Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 222-238.
-
Von der Freundlichkeit der Welt
Chorsätze nach Texten von Bertolt Brecht
für gemischten Chor, drei Klaviere und Schlagwerk
Textdichter/-vorlage: Bertolt Brecht
Besetzung: gemischter Chor (SATB), 3 Klaviere, Schlagwerk (8 Spieler)
Sprache: deutsch, englisch
Entstehungszeit: 1930, rev. 1973
Uraufführung: 19. März 1979 Leipzig (D)
Aufführungsdauer: 6′
Der Chorsatz Von der Freundlichkeit der Welt ist Teil der Kantaten nach Texten von Bert Brecht
Besetzung detailliert
Sänger: Chor (SATB)
Instrumente: 2-3 Klaviere, 4-hdg., 4 Pauken
Schlagwerk: Messklingeln · Röhrenglocken · Glockenspiel · Bassxylophon · Marimbaphon · Xylophon · kleine Trommel mit und ohne Schnarrseite · große Trommel · Becken auf großer Trommel · 3 Becken (8 Spieler)
Aufführungsmaterial Schott Music
Inhalt
1. Von der Freundlichkeit der Welt
2. Großer Dankchoral
3. Gegen Verführung
Die Chorsätze sind auch einzeln aufführbar.
Kommentar
Von der Freundlichkeit der Welt
Das Titelstück verbindet einstimmigen Textvortrag mit einer instrumentalen Drehformel in spröden Quartengängen über einer gegenläufigen Tenorführung. Die grundierende Dudelsackquint auf G ist so zu einem einfach schweifenden Bordun variiert. Es entsteht – trotz der chorischen Besetzung – der Eindruck einer Musette, von einem Bänkelsänger im Leierton einer Moritat vorgetragen. Auch das substanzgleiche Vor- und Nachspiel weist auf den Leierkastenton.
Großer Dankchoral
In der Choralparodie fällt dem Musiker – wie auch im Schlußstück – das Umsteigen in den »niederen Stil« offenbar schwerer. Über einem oktavierten Orgelpunkt auf G ist der Text für drei Stimmgruppierungen in durchgehenden Halben notiert. Nur das »Kommet zuhauf« ist zu ganzen Notenwerten verbreitert. Es parodiert nicht nur »wörtlich« die textgleiche Stelle des Chorals, sondern bildet auch die Initiale und die Markierung zwischen den Strophen. Der Chorsatz ist durch knirschende Spalt- und Reibeklänge charakterisiert.
Gegen Verführung
Brecht hatte in seiner »Anleitung zum Gebrauch« der »Hauspostille« empfohlen, »jede Lektüre … mit dem Schlußkapitel zu beschließen«. Orff beginnt das »Schlußkapitel« mit der gleichen melischen Formel wie das Eingangsstück, ändert diese dann freilich unter dem Diktat des andersgearteten Versbaues durch Einfügen einer charakterisierenden Synkope im zweiten Takt in Richtung auf den Song Stil.
Die Musette Quint steht jetzt auf C. Damit wird nicht nur ein verbindender Quintbogen vom ersten zum letzten Teil geschlossen, sondern auch die modale Färbung eines im ersten Teil anklingenden g Phrygisch nach c Moll hin aufgehoben.
In die gleiche Richtung weist auch die skizzierte Großgliederung des Schlußstückes. Jede Strophe sollte zweimal vorgetragen werden, bei der Wiederholung aber in die Oberquart hochgerückt, wozu der Instrumentalsatz reicher ausgebaut ist. In der Particell Skizze ist die Wiederholung ohne Text notiert, die Ausführung durch den Chor ist aber durch die getrennt aufgeschriebene Melodiezeile weiter ausgewiesen. Der Diskant des Bläsersatzes läuft unisono mit der Singstimme.
So entsteht eine Art Finale einer zyklischen Anlage. Der Aufbau ist von der Sprachform der drei Stücke her vorgezeichnet. Das erste ist rein konstatierend; es hat im Sinne Brechts »Mitteilungscharakter« im Chanson Stil. Das zweite parodiert eine singende Kultgemeinde: Laßt uns loben! Erst das letzte Stück hat Anrufcharakter: der Adressat soll zu einer Stellungnahme provoziert werden.
So weist das Schlußstück zugleich voraus auf die zweite Dreierfolge der Chorsätze nach Brecht, die durch einen plakathaften Stil in Sprache und Musik charakterisiert sind.
Nachweise
Textnachweise Kommentar:
Werner Thomas: »Der Weg zum Werk«, in: Carl Orff (Hg.): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. I: Frühzeit, Tutzing 1975, S. 73-251, hier S. 214-221.